15. Juni 2012

Der Sammler - John Fowles

Produktinfos:

Ausgabe: 2010
Seiten: 351
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Der Autor:

John Fowles lebte von 1926 bis 2005. Der Brite studierte zunächst Sprachen und arbeitete als Lehrer, ehe er sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. Seine bekanntesten Romane sind neben "Der Sammler" vor allem "Die Grille" und "Die Geliebte des französischen Leutnants".

Inhalt:

Frederick Cleggs ist schon als Kind und Jugendlicher zurückgezogen, scheu und schließt sehr schwer neue Kontakte. Nachdem sein Vater früh stirbt und seine Mutter daraufhin mit einem anderen Mann durchbrennt, wächst er bei seiner strengen Tante Mabel und deren gelähmter Tochter Annie auf. Cleggs entwickelt nur eine Leidenschaft, das Fangen und Präparieren von Schmetterlingen. Zu seinen schönsten Momenten gehören die Tage, an denen sein Onkel Dick ihn zur Schmetterlingsjagd mitnimmt - doch als Onkel Dick einen Schlaganfall erleidet, ist er wieder einsam.

Auch als Erwachsener bleibt Cleggs ein Sonderling ohne Freundschaften und ohne Beziehungen zu Frauen. Ein unerwarteter hoher Gewinn im Toto verschafft ihm aber zumindest finanzielle Unabhängigkeit. Für die zweite große Änderung in seinem Leben sorgt die zwanzigjährige Kunststudentin Miranda. Er begegnet der jungen, attraktiven Frau regelmäßig bei seiner Arbeit im Rathaus, ohne dass sie je ins Gespräch kommen. Schon bald steht für Clegg fest, dass er sie in seinen Besitz bringen muss. Er kauft ein abgelegenes altes Haus und richtet die Kellerräume wohnlich her. Danach lauert er Miranda auf, betäubt sie mit Chloroform und bringt sie in sein Haus.

Nachdem Miranda in ihrem Gefängnis erwacht, versucht Clegg ihr zu erklären, dass er ihr nichts tun will. Er will sie nur anschauen und ihre Gesellschaft genießen. Die geschockte junge Frau versucht auf unterschiedliche Weisen, mit ihrer Lage fertig zu werden - mal versucht sie zu flüchten, mal will sie Clegg überreden, sie freizulassen. Clegg dagegen ist klar, dass er sein Opfer nicht mehr gehen lassen darf ....

Bewertung:

Ein Mann begehrt eine junge Frau, entführt sie und hält sie in seinem Keller gefangen - was wie der Plot eines beliebigen Psychothrillers klingt, ist ein hervorragendes Werk, das die Eigenschaften eines Thrillers mit einer intensiven Psychostudie verbindet. Es ist das faszinierende Porträt eines gestörten Menschen, der die Falschheit seines Tuns überhaupt nicht begreift und in seiner eigenen Welt und Wahrnehmung lebt.

Der erste Teil des Romans wird aus der Sicht von Frederick Cleggs erzählt. Er gibt kurze Einblicke in seine Kindheit und Jugend und konzentriert sich sehr schnell auf das Einzige, für das er offenbar Talent hat - die Schmetterlingsjagd. So wächst er zu einem typischen Sonderling heran, der unter seiner rigiden Tante leidet und der selbst die große Chance durch den Toto-Gewinn nicht zu einem besseren Leben nutzen kann. Cleggs ist ein Soziopath - unfähig, sich in Gefühle und Gedanken anderer Menschen realistisch hineinzuversetzen und unfähig, im Alltag mit anderen Menschen umzugehen. Freundschaften wie Liebesbeziehungen sind ausgeschlossen, Clegg meidet den Kontakt zu seinen Mitmenschen so gut wie möglich - die Handlung spielt in den sechziger Jahren und man malt sich unwillkürlich aus, wie sich Clegg im Internetzeitalter vermutlich für keinen Einkauf mehr vor die Tür bewegen würde. Interessant ist Clegg vor allem deshalb, weil er keinen Hass auf seine Mitmenschen hat, niemandem schaden möchte, ja nicht einmal und gar am allerwenigsten seinem Opfer.

Es ist bizarr zu lesen, wie er sich um Mirandas Befinden sorgt, ihr das Leben in seinem Keller so angenehm wie möglich gestalten will und er davon überzeugt ist, dass sie sich mit der Zeit mit ihrer neuen Situation arrangieren kann - vielleicht sogar ihn lieben wird. Der passionierte Schmetterlingssammler hat zum ersten Mal ein menschliches Opfer gefunden - eine schöne junge Frau, intelligent und lebenshungrig, für ihn das einzig begehrenswerte Geschöpf auf der Welt und seine Hoffnung, durch sie endlich ein glücklicher Mensch zu werden. Mit großer Hingabe und vielen Überlegungen stattet er ihren Kellerraum gemütlich aus, beschafft teure Kunstbände und serviert seiner Gefangenen alles, was ihr Herz begehrt. Körperliche Nähe ist dabei kein Ziel, zu Mirandas Erleichterung und gleichzeitiger Verwirrung macht er niemals Anstalten, sie zu vergewaltigen; zu sehr ist er ein Sammler, der sich damit begnügt, das Objekt seiner Begierde zu besitzen und ab und zu betrachten zu können, wie die präparierten Tiere in seiner Schublade. Es gibt durchaus Momente, in denen der Leser Mitleid für Clegg hat. Seine Herkunft und sein Schicksal haben es beinah unausweichlich gemacht, dass er zu seinem Sonderling geworden ist und anfangs hält man es ihm zugute, dass er Miranda nicht sexuell bedrängt, ja sogar mit dem Gedanken zumindest spielt sie eines Tages wieder freizulassen. Das ändert sich allerdings, als Miranda ein paar Mal zu flüchten versucht und Clegg zunehmend ärgerlich reagiert. Seine Rücksichtnahme schwindet allmählich, je mehr sich sein Frust erhöht, weil sich immer stärker offenbart, dass Miranda sich nicht wie erwünscht und erhofft verhält. Teilweise sind Cleggs Reaktionen sogar tragikomisch, etwa wenn er glaubt, eine geschickte Lüge gefunden zu haben und sofort von Miranda durchschaut wird. Miranda wiederum ist intellektueller als von Clegg gedacht, eine anspruchsvolle junge Frau, die nach der ersten Eingewöhnungsphase ihrem Peiniger ordentlich Kontra gibt. Energisch kritisiert sie seinen spießigen und geschmacklosen Einrichtungsstil, verlangt Privilegien wie regelmäßige Bäder, Luxusaccessoires wie Parfüm und Feinkostdelikatessen. Bald ist es nur noch die schöne Fassade, die Clegg an seinem Opfer reizt - denn charakterlich passen er und Miranda überhaupt nicht zueinander.

Der zweite Teil des Buches gibt Mirandas heimlich geführtes Tagebuch wieder. Dabei ist es durchaus reizvoll, dass sie unter anderen Umständen nicht unbedingt eine Sympathiefigur wäre - aber natürlich bangt der Leser in ihrer Lage um sie und hofft auf ein kleines Wunder, das zu ihrer Befreiung führt. Wie die Geschichte endet, ist zwar im Nachhinein nicht überraschend und dennoch ist es bis kurz vor Schluss nicht unbedingt absehbar. Das Psychoduell zwischen Miranda und Clegg schlägt mal in die eine und mal in die andere Richtung aus, Fluchtversuche wechseln sich mit langen Gesprächen, intimen Geständnissen und Wutausbrüchen ab. Negativ sind allein Mirandas etwas zu penetrante Abschweifungen in ihrem Tagebuch zu dem deutlich älteren und von ihr bewunderten Künstler G. P., die zwar teils interessant und aufschlussreich sind, sich aber insgesamt über zu viele Seiten erstrecken.

Fazit:

Eine sehr gelungene Mischung aus Psychothriller und Charakterstudie, ein detailliertes, faszinierendes Psychogramm eines Soziopathen. Die kammerspielartige Handlung ist spannend und kommt ohne blutige Szenen aus.

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