4. Juni 2012

Der Mord an Harriet Krohn - Karin Fossum

Produktinfos:

Ausgabe: 2006
Seiten: 268
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Die Autorin:

Karin Fossum wurde 1954 in Norwegen geboren. 1974 und 1978 erscheinen zwei Gedichtbände von ihr, ehe sie ihre Kinder bekam und eine schriftstellerische Pause einlegte. 1995 erschien ihr Debütroman "Evas Auge" mit dem Ermittler Kommissar Sejer. Es folgten weitere Bände, u. a. "Fremde Blicke", "Dunkler Schlaf" und "Stumme Schreie".

Inhalt:

Nach dem Tod seiner geliebten Frau Inga geht es mit Charles Olav Torp nur noch bergab. Seine Spielsucht gerät außer Kontrolle, seine Schulden werden immer höher, er verliert seine Arbeit, und der Kontakt zu seiner 16-jährigen Tochter Julie friert ein. Vor allem unter der Distanz zu Julie, die selbstständig in einem Wohnheim lebt, leidet er stark. Als sich seine Spielschulden auf 200.000 Kronen belaufen und er fürchtet, von seinen Gläubigern zusammengeschlagen zu werden, fasst er einen grausigen Entschluss:

Charles sucht sich die alte Harriet Krohn als Raubopfer aus. Unter einem Vorwand lässt er sich abends in ihre Wohnung bitten und bedroht sie mit einem Revolver. Wider Erwarten wehrt sich die alte Frau, und in Panik erschlägt er sie. Anschließend durchsucht er ihre Wohnung, findet 200.000 Kronen in bar und Silberbesteck. Auf dem Heimweg gerät er unverschuldet in einen Autozusammenstoß und flüchtet, um nicht in Tatortnähe gesehen zu werden.

Mit dem Geld bezahlt er seine Schulden, für den Erlös des Silbers kauft er einen stolzen Fuchswallach und schenkt ihn seiner reitbegeisterten Tochter, die ihr Glück kaum fassen kann. Endlich verbringt er wieder regelmäßig Zeit mit Julie, zumal er im Reitstall eine Anstellung findet. Doch die Angst, dass man seine Spur findet, nimmt kein Ende. Täglich verfolgt Charles die neuen Ermittlungen im Fall Harriet Krohn. Die wachsende Paranoia und sein Gewissen setzen ihm immer weiter zu ...

Bewertung:

Karin Fossums Krimis um Hauptkommissar Konrad Sejer zeichnen sich stets durch einen besonderen Fokus auf die Seelenzustände der Figuren und psychologische Tiefe aus.

Lupenreiner Whydunnit

Von Beginn an ist der Leser über den Täter im Bilde. Er verfolgt unentwegt Charles' Gedankengänge, die Vorbereitungen für den Mord und die Tat selbst sowie sein anschließendes Martyrium, seine ständige Angst vor Entdeckung. In kleinen Rückblicken wird man in seine Vergangenheit geführt. Man erfährt, wie er schon während seiner Ehe allmählich auf die schiefe Bahn geriet und der Faszination des Glücksspiels erlag. Was er damals noch halbwegs unter Kontrolle halten konnte, entglitt ihm nach dem Tod seiner Frau, die seine Stütze war, vollends. Eine kleine Unterschlagung in der Firma kostet ihn den Job, seine Gläubiger drohen ihn mit Gewalt zum Zahlen zu bringen, der Kontakt zu Julie, dem einzigen Menschen, der ihm noch etwas bedeutet, reißt ab. In manchen Momenten empfindet man ansatzweise Mitleid mit Charles. Seine Vorstellung von Glück konzentriert sich auf eine liebevolle Beziehung zu seiner Tochter, nur für sie ist er bereit, buchstäblich über Leichen zu gehen. Anrührend sind die Rückblicke in Julies ersten Ausflug in einen Reitstall, ihre ersten Reitversuche auf dem Pony Snowball, ihre späteren Turniererfolge und Charles' Stolz auf seine Tochter, dem er mit einem eigenen Pferd endlich Ausdruck verleihen möchte. Es ist ein verzweifelter Versuch, mit dem edlen und riesigen Fuchswallach "Call me crazy" die Liebe seiner Tochter zurückzugewinnen, und anfangs scheint diese traurige Rechnung sogar aufzugehen. Auch um Julies Willen, um die junge Frau, die tapfer den Verlust der Mutter erträgt und ihr Leben schon sehr selbstständig meistert, fühlt man sich zerrissen zwischen dem Wunsch, die beiden mögen wieder zusammenfinden, und der Abneigung gegen Charles, der für seine Tochter das Leben einer alten Frau opferte.

Dass man Charles einerseits für den Mord verabscheut und andererseits hin und wieder in Versuchung gerät, ihn wegen seines Schicksals zu bedauern, bildet einen interessanten Spannungspunkt, der den Leser fesselt - obwohl es keiner der konventionellen Krimis ist, bei denen man den Mörder erraten muss. Dennoch bleiben genug Faktoren übrig, die bis zum Schluss ungewiss sind. Man fragt sich, ob Charles von Kommissar Sejer gefasst werden wird oder sich womöglich stellt, ob seine Tochter, bei der der plötzliche Geldsegen natürlich Misstrauen erweckt, hinter die schreckliche Tat kommt oder ob Charles sogar zusammenbricht und aus Verzweiflung Selbstmord begeht - denn seine verständliche Sorge vor Entdeckung wandelt sich nach und nach in eine ausgewachsene Paranoia. Plötzlich fürchtet Charles an jeder Ecke, entlarvt zu werden. Irgendjemand könnte ihn wider Erwarten beobachtet haben, sein Aussehen ist vielleicht doch nicht so unauffällig und durchschnittlich, wie er glaubt, der Verursacher des Autounfalls könnte ihn identifizieren, nachdem bekannt wurde, dass ganz in der Nähe kurz zuvor ein Mord verübt wurde. Sein sorgfältig ausgearbeiteter Plan bricht in sich zusammen, kleine Patzer und Risiken häufen sich. Charles' Leben ist eine einzige Lüge, die Belastung hinterlässt schließlich auch körperliche Spuren. Karin Fossum zeichnet das gelungene Porträt eines Mörders, der sich selbst vor allem als Opfer widriger Umstände sieht, und schafft dadurch eine unkonventionelle Krimi-Basis.

Kleine Schwächen

Im Gegensatz zu anderen Werken der Autorin taucht der ermittelnde Kommissar Sejer hier nur am Rande auf. Wer die Reihe also vorwiegend wegen seiner Person verfolgt, wird in diesem Band sicher zunächst leicht enttäuscht werden. Bis auf ein paar wenige Begegnungen mit dem Kommissar lebt der Roman allein durch die Präsenz von Charles. Das ist schade, da Konrad Sejer ein sehr sympathischer und interessanter Ermittler ist. Andere Romane der Reihe gewähren Einblick in sein Gefühlsleben, das vor allem von Einsamkeit geprägt ist nach dem Krebstod seiner Frau, ohne dabei die Krimihandlung zu verdrängen.

Gewöhnungsbedürftig ist auch der Stil des Buches. Karin Fossum neigt grundsätzlich zu einem parataktischen Stil, es dominieren die Hauptsätze, die sich oft anstelle eines Nebensatzes aneinanderreihen. Dies passt natürlich ideal zu den inneren Monologen von Charles, zu seinen sprunghaften Gedanken, die mit vielen Assoziationen durchsetzt sind - aber diese Hektik verleiht dem Text nicht nur Authentizität, sondern macht ihn auch ein wenig schwerer lesbar.

Fazit:

Ein interessanter Krimi aus der Kommissar-Sejer-Reihe, in der man intensiv an der Psyche des Mörders teilnimmt. Obwohl der Täter dem Leser von Beginn an bekannt ist, kommt Spannung auf. Nur der hektische Stil ist gewöhnungsbedürftig sowie die Tatsache, dass Kommissar Sejer deutlich weniger Auftritte in der Handlung hat als gewohnt.

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