15. Juni 2012

Kidnapping - Max Allan Collins

Produktinfos:

Ausgabe: 1993
Seiten: 668
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Der Autor:

Max Allan Collins, geboren 1948 in Iowa, verfasste mehrere Detektivserien, die teilweise in den dreißiger und vierziger Jahren spielen. Daneben verfasste er Buchadaptionen von TV-Serien wie CSI und Dark Angel. Daneben ist er auch Comicautor für Serien wie Batman und Dick Tracy.

Inhalt:


1. März 1932, New Jersey: Das "Verbrechen des Jahrhunderts" erschüttert die Vereinigten Staaten. Der knapp zweijährige Sohn Charles jr. von Anne und Charles Lindbergh, dem gefeierten Piloten und Volkshelden, wird nachts unbemerkt aus seinem Kinderzimmer im Ferienhaus entführt. Zurück bleibt ein Erpresserbrief in fehlerhaftem Englisch mit der Forderung nach 50.000 Dollar Lösegeld. Die verzweifelten Eltern schalten die Polizei ein.

Nate Heller, ein Detektive aus Chicago, löst zur gleichen Zeit mehr durch Zufall eine andere prominente Baby-Entführung und bringt dieses Kind heil zurück. Als die Lindberghs davon erfahren, lassen sie ihn als Unterstützung nach New Jersey kommen. Nate zögert zwar, da er nicht wirklich glaubt, eine Hilfe sein zu können, willigt aber ein. Charles Lindbergh fasst offenbar schnell Vertrauen zu ihm. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, auch Wahrsager werden aufgesucht. Schließlich wird das Lösegeld durch einen vom Entführer ausgewählten Vermittler übergeben, doch der kleine Charlie bleibt verschwunden. Nate Heller kehrt schließlich wieder nach Chicago zurück und verfolgt den Fall nur noch aus Zeitungen.

Rund drei Monate später wird eine Babyleiche in einem Waldstück gefunden, die Lindbergh als seinen Sohn identifiziert - das Baby wurde bereits kurz nach der Entführung getötet. Die Ermittler verhaften einen deutschen Einwanderer, bei dem Teile des Lösegeldes und weitere Indizien gefunden werden. Justiz und Medien beginnen eine Hetzjagd auf Richard Bruno Hauptmann, der der ideale Schuldige zu sein scheint. Schließlich zieht der Gouverneur Nate Heller, der inzwischen als Privatdetektiv arbeitet, erneut an den Fall heran: Heller soll versuchen, Hauptmanns Unschuld zu beweisen - oder zumindest den Rest der Bande zu finden, denn es scheint sehr unwahrscheinlich, dass Hauptmann allein gearbeitet hat. Je mehr sich Heller mit Hauptmann auseinander setzt, desto überzeugter ist er, dass tatsächlich sehr viel mehr hinter der Geschichte steckt, als in der Öffentlichkeit bekannt wird ...

Bewertung:

Die Entführung und anschließende Ermordung des Lindbergh-Babys ist auch heute noch eines der spektakulärsten Verbrechen der USA. Beim Schicksal des kleinen Charlie Lindbergh treffen zwei Komponenten aufeinander - einmal die augenscheinlich unerklärliche Tötung eines Kleinkindes und zum anderen die Prominenz seiner Eltern, vor allem natürlich Charles Lindbergh, der als Flugpionier ein heldenhaftes Ansehen in den USA genoss. Bis heute gibt es viele Spekulationen zu dem Fall und zur Täterfrage, insbesondere, ob der verurteilte Richard Bruno Hauptmann, den Öffentlichkeit und Medien als bösen Deutschen nur zu gerne als Schuldigen akzeptierten, die Tat begangen und wenn ja, ob er sie wirklich allein durchgeführt hat.

Max Allan Collins ist ein Profi auf dem Gebiet der Mischung aus Fiktion und wahrem Hintergrund, wie er schon öfter sowohl in den Bänden seines Ermittlers Nate Heller als auch in der Serie um den legendären Prohibitionsermittler Eliot Ness bewies. "Kidnapping" ist ein grandioser Krimi, der authentisch in die Zeit der Dreißigerjahre führt. Dem Autor gelingt die Umsetzung der faszinierenden Idee, seinen Detektiv und Ich-Erzähler, zu Beginn des Romans noch ein Cop in den Zwanzigern, in einen der berühmtesten Kriminalfälle der USA zu integrieren. Wie selbstverständlich bewegt sich Nate Heller inmitten historischer Gestalten wie Al Capone, den Lindberghs, Richard Hauptmann, Professor Condon alias "Jafsie", Lindberghs Beraterstab und vielen weiteren mehr. Die tatsächlichen Ermittlungen und der wahre Prozess wurden hervorragend recherchiert und man neigt immer wieder dazu, zu vergessen, dass Nate Heller eine fiktive Figur ist - so plausibel wird erzählt, wie er mit all diesen historischen Figuren umgeht:

Lindbergh lässt sich rasch von ihm bei seinem Spitznamen "Slim" nennen und Heller ist einer der wenigen, die dem großen amerikanischen Helden manchmal zu widersprechen wagen. Dem Leser erscheint Lindbergh als jungenhafter, ruhiger Mann, der eher in sich gekehrt ist, stets Haltung bewahrt und zugleich immer wieder ein eigentlich scheues Wesen aufblitzen lässt. Die reiche Societydame und Philanthropin Evalyn McLean, die 100.000 Dollar für die Rückkehr des Babys veräußerte, wird Heller eine gute Freundin und zeitweilige Geliebte. Immer wieder witzig sind Hellers Begegnungen mit "Jafsie", dem äußerst patriotischen Professor Condon, der als Mittelsmann von den Entführern ausgewählt wurde - vom ersten Anblick an können sich die beiden nicht ausstehen und der Ich-Erzähler zeichnet ein karikaturenhaftes Porträt des pathetischen Professors mit seinen schmalzigen Reden und seiner aufgesetzten Art. Weitere wichtige authentische Figuren, die hier in Erscheinung treten, sind die Bediensteten der Lindberghs, Lindberghs Anwalt und Vertrauter Colonel Breckinridge, der Chef der Staatspolizei Schwarzkopf - und natürlich der Verurteilte Richard Bruno Hauptmann. Nate Heller führt mit ihm ein langes Gespräch in dessen Todeszelle und der Leser kann sich dabei kaum der Sympathie für Hauptmann entziehen, einen einfachen Schreiner mit Frau und Kind, der von den Medien mal als Monster und mal als psychopathisches Genie gezeichnet wird. Entlastende Beweise wurden vertuscht, Indizien gegen ihn fingiert, selbst sein Anwalt scheint mit der Gegenseite zu kooperieren und ist auffallend erfolglos in seinem "Bemühen". Nate Heller ist einer der wenigen, die in Hauptmann ein mögliches Opfer sehen und sich für ihn einsetzen. Umso schmerzlicher ist es, bei der Lektüre die ganze Zeit über zu wissen, dass Hauptmann im Roman wohl kaum dem elektrischen Stuhl entkommen kann, da sich das Werk an die bekannten Fakten hält. Spannend ist das Werk trotzdem bis zur letzten Seite - denn man verfolgt gebannt die Entwicklungen und möchte wissen, welche Theorie der Autor entwirft, wie er die bekannten Fakten zu einem neuen Schluss führen lässt.

Nate Heller kommentiert seine Erlebnisse mit Zynismus, aber auch mit trockenem Humor. Er ist durchaus ein harter Cop, der schon vieles gesehen hat in seinen jungen Jahren und sich keine Illusionen macht, aber er ist nicht verbittert und er hat Gefühle. Ein amüsanter Running Gag ist das ständige neue Auftauchen von "Colonels" in Lindberghs Umfeld, inklusive Lindbergh selbst, sodass Nate Heller ständig irritiert ist, welcher der "Colonels" denn gerade gemeint ist und er geradezu erleichtert über einen "Admiral" ist, den er zumindest von den anderen unterscheiden kann. Was gibt es an dem Roman zu kritisieren? - Wahrlich nicht viel, aber dennoch: Es ist etwas schade, dass erst äußerst ausführlich von jedem Ermittlungsschritt berichtet wird und Nate Heller ausgerechnet in der Zeit der Entdeckung des Babyleichnams und der Festnahme Hauptmanns nicht mehr bei den Lindberghs wohnt und alles nur aus Zeitungen erfährt. Gerade in dieser hochemotionalen Phase wäre es reizvoll gewesen, die Ereignisse aus der Sicht der Lindberghs zu erleben. Zudem geht der Roman, soviel darf vorab verraten werden, nicht von einer Täterschaft Hauptmanns aus - und das ist eine Theorie, der sicher nicht jeder Leser folgen mag. Es ist nicht zu bestreiten, dass Hauptmann einen unfairen Prozess hatte. Es ist zumindest sehr fraglich, dass er ein Einzeltäter war und Kandidaten für mögliche Komplizen oder Auftraggeber gibt es viele, die allerdings ignoriert wurden. Und es ist nicht auszuschließen, dass Hauptmann tatsächlich unschuldig war. Abgesehen von diesen objektiven Fakten wird allerdings ein deutlich positiveres Bild von Hauptmann als von seinen Gegnern gezeichnet und bei der sympathischen Darstellung Hauptmanns wird vielleicht dementsprechend ein bisschen dick aufgetragen. Zudem ist es hilfreich, ein paar Hintergrundkenntnisse zu den Zeitumständen zu haben, nicht auf den Lindbergh-Fall bezogen, sondern vielmehr auf die Zeit der Prohibition und Al Capone, die immer wieder eine Rolle spielen, aber nur angerissen werden.

Fazit:

Ein atemberaubender Kriminalroman, der auf Tatsachen beruht. Der fiktive Ermittler Nate Heller wird in den legendären Fall der Lindbergh-Entführung verwickelt und kommt nach jahrelangen Nachforschungen zu einer ganz anderen Theorie als der offiziellen Version. Dem Autor gelingt es glänzend, die kriminalistischen Fakten und historische Figuren wie Charles Lindbergh und seine Frau Anne, Al Capone, Evalyn McLean und viele weitere in diesen Roman einzubauen, der ein Muss für alle Fans von Hardboiled-Krimis und den Dreißigerjahren ist.

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