4. Juni 2012

Die linke Hand - Hannah Tinti

Produktinfos:

Ausgabe: 2009
Seiten: 366
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Die Autorin:

Hannah Tinti stammt aus Massachusetts und studierte Literatur. Vor ihrem Durchbruch als Schriftstellerin veröffentlichte sie diverse Artikel in Zeitschriften, außerdem ist sie Herausgeberin eines Literaturmagazins. Im Jahr 2004 erschien ihr Erzählband "Tanz der Tiere", für den sie für den PEN/Hemingway Award nominiert wurde. "Die linke Hand" ist ihr erster Roman.

Inhalt:

Neuengland, Mitte des 19. Jahrhunderts: Wie viele andere Jungen lebt Ren im kirchlichen Waisenhaus St. Anthony's, seit er als Säugling anonym abgegeben wurde. Schon damals fehlte ihm die linke Hand, und niemand weiß, wo er herkommt und wo er seine Hand verloren hat. Hier hat er zwar Freunde, doch das Leben ist ärmlich und hart. Als Ren zwölf Jahre alt ist, nimmt ihn ein Mann mit sich, der sich zunächst als sein älterer Bruder ausgibt.

Schon bald erfährt Ren, dass Benjamin nicht wirklich sein Bruder ist. Stattdessen ist er ein gerissener Trickdieb, der einen Jungen als Gehilfen suchte. Ren eignet sich ideal dafür, denn mit seiner fehlenden Hand weckt er Mitleid und lässt sich zum Betteln einsetzen. Ren ist nicht gerade glücklich über sein neues Leben, fügt sich aber schnell ein und zeigt Talent im Stehlen.

Auf ihren Streifzügen werden die beiden von Benjamins Komplizen Tom begleitet, einem ehemaligen Lehrer, der inzwischen sehr heruntergekommen ist. Eine ihrer lukrativsten Aufgaben ist Leichenräuberei. Sie stehlen nachts frisch beerdigte Leichen vom Friedhof und liefern sie für Forschungszwecke an Mediziner aus. Anfangs ist Ren verstört über diese Tätigkeiten, ganz allmählich findet er aber auch Gefallen am Vagabundenleben. Er schließt neue Freundschaften, darunter mit einem Auftragsmörder und einem Zwerg, und gewöhnt sich an die Abenteuer. Aber langsam ahnt er, dass Benjamin wohl einiges über sein Vergangenheit weiß und ihn nicht zufällig ausgewählt hat ...

Bewertung:

Ein bisschen Charles Dickens und ein bisschen Robert Louis Stevenson erkennt man unschwer in diesem Debütroman, der neben einer spannenden Handlung vor allem ein düsteres Porträt des 19. Jahrhunderts zu bieten hat.

Spannend und atmosphärisch

Hannah Tinti gelingt eine wunderbar unbeschönigende Darstellung des 19. Jahrhunderts, wie es sich unter den armen Leuten abgespielt haben mag. Der Roman kombiniert Elemente der Gothic Novel mit Historik und Krimi. Zum einen dreht sich die Handlung unterschwellig immer die Frage um Rens Herkunft. Seit früher Kindheit sehnt er sich nach Gewissheit, wer seine Eltern waren, wer ihn ins Waisenhaus gegeben hat und wodurch er als Baby seine Hand verloren hat.

Diese Fragen rücken aber zunächst in den Hintergrund, als der gerissene Benjamin ihn aufnimmt und in die Kunst des Vagabundenlebens einführt. Benjamin ist ein Trickdieb, der beispielsweise Wundermedizin an Leichtgläubige verkauft und Ren als Vorführobjekt einsetzt, um die Kunden zu überzeugen. Daneben verdingt er sich als Leichenräuber, eine aufregende und unheimliche Erfahrung für Ren. Zusammen mit Benjamin und Tom geht es nachts auf Friedhöfe, wo frisch beerdigte Leichen ausgegraben werden. Schmuckstücke stecken die Gauner selbst ein, der Körper geht an Doktor Milton, der mit großem Interesse medizinische Forschungen anstellt. Vor allem seine Begeisterung über alle menschlichen Abnormitäten, die durch nichts erschüttert werden kann, sorgt für kleine amüsante Momente in der ansonsten recht düsteren Atmosphäre. Fast ununterbrochen befinden sich Ren, Benjamin und Tom auf der Flucht, und jeder neue unredliche Versuch, an Geld zu kommen, bringt Gefahr mit sich.

Der Roman erinnert an eine grausamere Version von Dickens "Oliver Twist", der sich trotz des jungen Protagonisten nicht für zu junge Leser eignet. Besonders intensiv wirken die medizinischen Schilderungen von Rens Erlebnissen im Krankenhaus, wo er unter anderem eine Amputation miterlebt. Gemeinsam mit Ren begegnet der Leser Krankheiten, Gestank aus der Gosse, Schmutz, Hunger, Kälte und Tod. Nicht nur das Vagabundenleben wird realistisch beschrieben, sondern auch das trostlose Leben im Waisenhaus. Das Essen ist karg, die Mönche führen teilweise ein hartes Regiment, und die wenigen Freundschaften unter den Jungen werden oft auf die Probe gestellt, etwa wenn jeder bei Besuchen erhofft, als Adoptionskind in Frage zu kommen.

Größtenteils gelungene Charaktere

Benjamin Nab ist ein undurchsichtiger Charakter, der Ren ebenso wie dem Leser Rätsel aufgibt. Er ist ein überzeugender Lügner, ein gewiefter Dieb und zuweilen skrupellos bei seinen Unternehmungen. Ren schwankt in seinen Gefühlen ihm gegenüber. Einerseits ist er froh, aus dem Waisenhaus entkommen zu sein, denn dank seiner fehlenden Hand schien es bis dato aussichtslos, an eine Familie vermittelt zu werden, da nur Jungen gesucht werden, die sich für die Farmerarbeit leisten. Andererseits bedeutet ein Leben an Benjamins Seite ständig Gefahr und Ungewissheit, und es sieht lange Zeit so aus, als sei Ren ihm als Person nicht besonders wichtig. Im späteren Verlauf allerdings deutet sich an, dass Benjamin Ren bewusst aussuchte, und Benjamins Verhalten erscheint in einem neuen Licht.

Eine interessante Gestalt ist der versoffene Tom, der nach einem heftigen Schicksalsschlag den Lehrberuf aufgegeben hat und nun mit Benjamin zusammenarbeitet. Dabei geraten die beiden oft wegen Meinungsverschiedenheiten aneinander, nicht zuletzt weil Tom gern mehr trinkt, als gut für ihn ist. Während er anfangs eher wie ein ruppiger Trunkenbold erscheint, verleiht ihm das Hintergrundwissen über seine Vergangenheit in den Augen des Lesers durchaus auch sensiblere Facetten, die er unter Beweis stellt.

Eine markante Figur ist der hünenhafte Mörder Dolly, der mit Ren eine ungewöhnliche Freundschaft schließt. Nicht nur die Art des Kennenlernens ist skurril, sondern auch Dollys Verhalten. Einerseits ermordet er scheinbar emotionslos alle Menschen, die sich ihm in den Weg stellen, andererseits hält der wortkarge Riese seinem jungen Freund bedingungslos die Treue - auch wenn Ren mit Dolly oft redlich überfordert ist. Gelungene Nebenfiguren sind auch die schwerhörige Hauswirtin Mrs. Sands, bei der sich das Gaunertrio einquartiert, sowie der missgebildete Zwerg, der auf ihrem Dach lebt und nachts durch den Schornstein einsteigt, um sich mit Essen versorgen zu lassen.

Nur kleine Schwächen

Im Vergleich zu den restlichen Charakteren ist ausgerechnet die Hauptfigur Ren etwas zu blass geraten. Auch wenn er durch das Leben im Waisenhaus bereits abgehärtet ist, verhält sich der Zwölfjährige für sein Alter oft etwas zu abgeklärt. Zu selten spürt man bei ihm Angst und Unsicherheit, und zu schnell stellt er sich auf sein neues kompliziertes Leben ein. Auch wenn man berücksichtigt, dass Ren aufgrund seines bisherigen Lebens nicht mit einem heutigen Zwölfjährigen auf eine Stufe zu stellen ist, wünscht man sich hin und wieder mehr kindliche Verhaltensweisen. Besonders deutlich wird das im Vergleich mit seinen Freunden, den etwas jüngeren Zwillingen Brom und Ichy, gegen die Ren um mehr als drei Jahre älter wirkt. Unter Umständen kann man auch kritisieren, dass sich das Ende etwas zu leicht auflöst, die Fänden ein wenig zu einfach zusammenlaufen, was wieder an ein Jugendbuch erinnert, das es ansonsten nicht ist.

Fazit:

Ein spannender Abenteuerroman über einen Waisenjungen aus dem 19. Jahrhundert, der vor allem durch eine düstere Atmosphäre und ungeschönte Schilderungen überzeugt. Bleibt die Hauptfigur auch ein wenig blass, sind dafür die anderen Charakter umso besser gelungen. Von nur kleinen Schwächen abgesehen ein lesenswertes Buch, das an Werke von Charles Dickens und Robert Louis Stevenson erinnert.

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