4. Juni 2012

Die Apothekerin - Ingrid Noll

Produktinfos:

Ausgabe: 1996
Seiten: 248
Amazon
* * * * *
Die Autorin:

Ingrid Noll wurde 1935 als Tochter eines Arztes in Shanghai geboren. Mit 14 Jahren siedelte sie mit ihrer Familie nach Deutschland über, wo sie in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren begann. Erst im Alter von 55 Jahren veröffentlichte sie mit "Der Hahn ist tot" ihren ersten Roman, der sofort die Bestsellerlisten stürmte. Es folgten weitere Werke, allesamt humorvolle Krimis, die sich meist um mordende Alltagsfrauen drehen, u. a.: "Die Häupter meiner Lieben", "Selige Witwen", "Röslein rot". Mehrere ihrer Bücher wurden bereits verfilmt.

Inhalt:

Die Apothekerin Hella Moormann liegt im Heidelberger Frauenkrankenhaus. Ihre Bettnachbarin ist die ältere Rosemarie Hirte, der sie nach und nach aus ihrem abenteuerlichen Leben erzählt. Hella erlebte eine schwere Kindheit, mit einem strengen Vater und einem Außenseiterdasein in der Schule. Ein katastrophaler Unfall sorgt endgültig für ein Trauma bei dem jungen Mädchen, das sich seitdem ganz zurückzieht und verbissen für gute Noten arbeitet.

Ihre Partner entpuppen sich gewöhnlich als labile Sorgenkinder, die mit Selbstmordgedanken spielen oder Drogen nehmen. Mit dreißig Jahren lernt sie den jüngeren Zahnmedizin-Studenten Levin kennen, mit dem sie erstmals an eine dauerhafte Zukunft mit Familie denkt. Levin jedoch ist ein sprunghafter, verschwenderisch lebender Jüngling mit deutlich weniger ernsten Absichten. Während Hella hofft, dass ihr Traum von Hochzeit und Kindern doch noch in Erfüllung geht, wartet Levin auf den Tod seines reichen Großvaters Hermann Graber, der an einer Herzkrankheit leidet. Der alte Herr, der wenig von Levin hält, lebt in einer feudalen Villa, gemeinsam mit der jungen, liederlichen Margot, die ihm den Haushalt führt. Levin steht unter Druck, seit Dieter, Margots Ehemann, aus dem Gefängnis entlassen wurde. Dieter ist sein alter Kumpel, der Rache sucht und Levin erpresst. Levin überredet Hella zur Beihilfe zum Giftmord an seinem Großvater, um rascher an das Erbe zu gelangen. Nach langem Zögern willigt Hella ein. Sie mag den alten Großvater zwar, aber die Angst um Levin ist größer.

Das Testament birgt eine Überraschung: Als Haupterbin ist Hella eingesetzt, unter der Voraussetzung, dass sie Levin innerhalb eines halben Jahres heiratet. Das frische Brautpaar zieht in die Villa ein, Levin gewährt dort außerdem seinem versöhnten Kumpel Dieter und Margot Unterschlupf. Mit Unbehagen bemerkt Hella, dass Levin sie hauptsächlich wegen des Geldes geheiratet hat und vermutet auch langsam ein Verhältnis mit Margot. Dafür nähert sie sich Dieter an, der viel mehr Verständnis aufzubringen scheint als Levin. Doch es dauert nicht lange, bis diese prekäre Beziehungskonstellationen eskalieren. Levins Großvater wird nicht der letzte Tote in Hellas Leben sein ...

Bewertung:

Mörderische Ladys sind Ingrid Nolls Spezialgebiet. Auch ihr dritter Roman überzeugt durch Spannung und viel schwarzen Humor, den ihre Fans so sehr an ihr lieben.

Interessante Charaktere

Mit Hella Moormann hat sie eine für sie sehr typische Frauenfigur geschaffen. Hella ist intelligent und strebsam, ein bisschen spröde, vernunftbetont und gut organisiert. Diese Eigenschaften zeichneten sich bereits in der Kindheit ab, die zu Beginn in kurzen Auszügen erzählt wird. Hella hängt an ihrem Vater, der es jedoch als strenger Vegetarier seiner Familie nicht leicht macht. Ein schlimmer Zwischenfall mit katastrophalen Folgen in der Schule zerrüttet das familiäre Verhältnis endgültig, und Hellas Außenseiterleben bestätigt sich. Der Beruf als Apothekerin entspricht in mehrfacher Hinsicht ihrem Charakter. Sie hat einen guten Sinn für Details und Kleinigkeiten, sie arbeitet mit viel Sorgfalt und liebt es, Dinge zu sortieren und mit viel Feinsinn zu behandeln. Gleichzeitig besitzt sie ein ausgeprägtes Helfersyndrom. Um die Leere in ihrem eigenen Leben auszufüllen, widmet sie sich mit Hingabe problembelasteten Männern; Selbstmordkandidaten, labile Persönlichkeiten und ehemalige Häftlinge finden bei ihr Zuspruch und ein warmes Bett.

Da ist es kein Wunder, dass auch Levin in diese Sammlung hineinpasst. Levin gehört zum Typ der "großen Jungen"; er ist ein Wildfang mit viel Temperament, der sich zu Hellas Freude wie ein Kind für bestimmte Dinge begeistern kann. Andererseits gehört auch eine gehörige Portion Unreife zu seiner Person. Levin liebt den Luxus und die Verschwendung, Porschewagen sind seine große Leidenschaft, und er besitzt keine Ambitionen, sein Studium zu beenden. Die kluge Hella erkennt zwar seine Unzulänglichkeiten, und sie ahnt, dass Levin ihren Traum von einer kleinen Familie kaum teilen wird, doch sie hofft, mit dem nötigen Einfluss seinen Charakter zu festigen. Fast alle Figuren im Roman vereinen mehrere Seiten in sich. Das gilt auch besonders für Dieter, den man vor seinem ersten Auftritt als gefährlichen Exknacki beschrieben bekommt, ehe er sich dann zeitweise sogar sehr sensibel verhält und vorübergehend Levin aus Hellas Herz verdrängt. Hauptfigur Hella ist eine gelungene Mischung aus positivem und negativem Charakter. Sie ist wahrlich keine Heldin, beweist Unzulänglichkeiten, fällt auf die falschen Männer herein und nimmt es später mit der Treue selbst nicht mehr so genau. Trotzdem fiebert man mit ihrem Schicksal mit, amüsiert sich über ihre ironisch-zynischen Schilderungen und ist gespannt, was in ihrem Leben als nächstes geschieht.

Viel Spannung, viel Humor

Die Spannung entspringt dabei vor allem zwei Gründen: Zum einen läuft bei Ingrid Noll fast jeder Charakter Gefahr, um die Ecke gebracht zu werden. Die Handlung nimmt immer neue überraschende Wendungen, sodass man nicht sicher sein kann, wer hier als nächstes gegen wen intrigiert und ob man jemanden nicht voreilig falsch eingeschätzt hat. Nicht nur der leichtlebige Levin, der zwielichtige Dieter und die ordinäre Margot sind unberechenbar, sondern auch Hella selbst. Das beste Beispiel dafür ist die Beihilfe zur Ermordung von Hermann Graber, die Hella schwerste Gewissensbisse einbringt. Auch das reiche Erbe ist kein Trost für sie, denn geldgierig ist sie nie gewesen. Doch der brennende Wunsch, mit Levin ein glückliches Familienleben führen zu können, ist so stark, dass sie dafür selbst kriminelle Methoden in Kauf nimmt. Zum anderen deutet Hella in ihren Gesprächen mit Rosemarie Hirte immer wieder bestimmte Ereignisse an, ohne zu viel vorwegzunehmen, sodass der Leser es kaum erwarten kann, bis er Genaueres erfährt. Nicht nur Frau Hirte wundert sich über manche Andeutungen und fragt sich, welche Wendungen noch auf einen zukommen werden.

Auch in diesem Roman überzeugt die Autorin durch den unverwechselbaren Stil, in dem sie ihre Protagonistin erzählen lässt. Hella Moormann kommentiert ihr Leben einer einer lakonischen Sprechart, hat keine Scheu vor Selbstironie und gewinnt so auch tragischen und dramatischen Ereignissen eine galgenhumorige Note ab. Auch wenn Hella ihre Fehler erkennt und vor Selbstkritik nicht zurückschreckt, wird es mit der Moral nicht gerade genau genommen.

Wiedersehen mit Frau Hirte

Die Handlung spielt zwar in zwei Zeitrahmen, aber Gefahr, dabei durcheinanderzukommen, läuft man ganz sicher nicht. Der größte Teil der Erzählung besteht aus Rückblenden, in denen Hella aus der Zeit mit Levin erzählt. Die Kapitel werden dann oft mit Szenen aus der Gegenwart eingeleitet, in denen Hella im Krankenhaus liegt und sich mit Frau Hirte unterhält. Der besondere Clou in diesem Gegenwartsstrang liegt darin, dass Rosemarie Hirte für Noll-Leser keine Fremde ist, sondern die Hauptfigur in Nolls Debütroman "Der Hahn ist tot" war. Während Hella Moormann die 58-jährige Dame neben sich für eine alte, etwas langweilige Jungfer hält, die sie mit ihren Mordgeschichten schockt, ahnt sie nicht, dass Rosi Hirte ihr vor nicht allzu langer Zeit in nichts nachstand und selbst ein paar Leutchen auf dem Gewissen hat und nicht weniger schauerliche Geschichten zum Besten geben könnte.

Kleine Mankos

Nolls große Stärken sind zum einen das Erschaffen von emanzipierten Frauenfiguren, die sich trotz ihrer Durchschnittlichkeit und Sympathie zu Mörderinnen entwickeln, und zum anderen die humorvolle Darstellung von Rache- und Mordgeschichten. Die Schwäche liegt darin, dass sich dieses Schema beinah in jedem Roman finden lässt und sich die Figuren wie auch die Motive ähneln. Fans kommen dabei jedes Mal aufs Neue auf ihre Kosten, andere Leser können sich, wenn sie schon einen oder mehrere Werke gelesen haben, allerdings langweilen. Allein die Protagonistinnen aus den Romanen "Der Hahn ist tot", "Die Apothekerin" und "Die Häupter meiner Lieben" weisen starke Parallelen auf. Kindheit, Jugend und frühe Erwachsenenzeit sind geprägt durch Konflikte, Außenseiterdasein und viele Enttäuschungen in zwischenmenschlicher Hinsicht, vor allem in Liebesdingen. Hella Moormann ist zwar jünger als Rosemarie Hirte, aber beide Frauen verbindet die vergebliche Suche nach einem passenden Partner, nach der großen Liebe, mit der sie traute Zweisamkeit und ein Familienleben verwirklichen können. Die Morde ergeben sich nicht aus Gier oder gar Grausamkeit heraus, sondern entstehen beinah ungewollt und als notwendige Übel. Ohne Zweifel ist es höchst amüsant, wie diese jungen und nicht mehr ganz so jungen Damen auf der Suche nach dem großen Glück zu unpopulären Mitteln greifen und in Mordangelegenheiten verwickelt werden, die nicht einmal sie selbst sich jemals zugetraut hätten. Doch der Abnutzungseffekt kann nicht wegdiskutiert werden, und wer kein erklärter Fan von Ingrid Noll ist, wird dem Schema auf Dauer kritisch gegenüberstehen.

Stärke und Schwäche liegen auch in den Insideranspielungen nah beieinander. Wer Nolls Debütroman "Der Hahn ist tot" noch gut in Erinnerung hat, wird über das Wiedersehen mit Rosemarie Hirte begeistert sein. Die Anspielungen auf Rosi Hirtes Leben sind recht dezent gehalten, sodass die Kenntnis des anderen Romans nicht zwingend notwendig ist. Aber der Spaßfaktor liegt doch beträchtlich höher, wenn man um die Umstände aus "Der Hahn ist tot" weiß. Zudem besteht die Gefahr, dass einem der Lesespaß bei "Der Hahn ist tot" durch manche Details aus der "Apothekerin" verdorben wird, denn Rosi Hirte gibt ein paar Einzelheiten preis, die recht bedeutsam für den Handlungsverlauf ihrer Geschichte sind. Auch wenn die Bücher grundsätzlich voneinander unabhängig zu lesen sind, ist es deswegen dringend anzuraten, sich erst "Der Hahn ist tot" zu widmen und anschließend zur Lebensbeichte von Hella Moormann zu greifen.

Fazit:

Unterm Strich hat man es hier mit einem vergnüglich-spannenden Krimi zu tun, der vor allem weibliche Leser mit Spaß an schwarzem Humor begeistern wird. Kleine Parallelen zu Nolls anderen Romanen schwächen den Gesamteindruck zwar ein wenig, der aber trotzdem insgesamt sehr überzeugend ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.