10. Juni 2012

Der Schiffsjunge - John Boyne

Produktinfos:

Ausgabe: 2011
Seiten: 640
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Der Autor:

John Boyne wurde 1971 in Dublin geboren und lebt auch heute dort. Bekannt ist er vor allem für seinen preisgekrönten Roman "Der Junge im gestreiften Pyjama".

Inhalt:

Portsmouth, 1787: Der vierzehnjährige Waisenjunge John Jacob Turnstile schlägt sich als Taschendieb durch. Als er einem vornehmen Herrn die Uhr stehlen will, wird er erwischt und soll für zwölf Monate als Wiederholungstäter ins Gefängnis kommen. Der gütige Gentleman aber sorgt dafür, dass die Haftstrafe erlassen wird und John stattdessen zwei Jahre Dienst als Schiffsjunge auf der Bounty leisten darf.

Kurz darauf sticht die Bounty unter der Leitung von Kapitän Bligh in See mit Kurs auf die Südsee. Ziel der Mission ist es, auf Tahiti zahlreiche Brotfruchtpflanzen zu ernten, die dann als Nahrungsmittel in den englischen Kolonien angebaut werden sollen. John wird als Kapitänsdiener eingeteilt. Seine Aufgaben sind es, für Kapitän Bligh allerlei kleine Dienste zu verrichten wie die Kleidung zurechtzulegen, das Essen zu bringen und Tee zu servieren. Kapitän William Bligh entpuppt sich als fähiger und sympathischer Kommandant, zu dem John schnell Vertrauen fasst. Mit der Zeit wächst seine Bewunderung für Bligh und er empfindet ihn als eine Art Vaterersatz.

Kapitän Bligh hat den großen Wunsch, als erster Kommandant eine so lange Fahrt ohne eine einzige Peitschenstrafe und ohne Todesfall zu überstehen. Um Konflikte und Krankheiten so gut wie möglich von vornherein einzudämmen, legt er großen Wert auf Disziplin. Nicht alle Männer an Bord aber verstehen die Vorgehensweise des Kapitäns. Vor allem der junge Steuermannsmaat Fletcher Christian ist John sofort unsympathisch und er spürt, dass Christian jede Möglichkeit nutzt, um hinter dem Rücken des Kapitäns zu intrigieren. Trotz einiger Schwierigkeiten erreicht die Bounty schließlich die Südsee. Als die Männer die Freuden des unbeschwerten Insellebens kennen lernen, bricht die Disziplin endgültig. Kurz nach der Abreise kommt es schließlich zu einer Meuterei unter dem aufständischen Fletcher Christian ...

Bewertung:


Der Roman "Meuterei auf der Bounty" von 1932 und mehrere Hollywoodverfilmungen, allen voran der Klassiker mit Charles Laughton als Kapitän Bligh und Clark Gable als Fletcher Christian, haben das öffentliche Bild von der Geschichte der Bounty geprägt: Fletcher Chrstian als heldenhafter junger Mann und William Bligh als gnadenloser Tyrann, der seine Mannschaft drakonischen Strafen aussetzte und zu Recht von seinen Männern abgesetzt wurde. So ansehnlich vor allem die Gable-und-Laughton-Verfilmung aus der Unterhaltungssicht des Zuschauers sein mag - historisch korrekt ist sie nicht. Historiker sind sich mehr oder weniger einig darüber, dass Kapitän Bligh in Wahrheit alles andere als ein Tyrann war und der Meuterer Fletcher Christian alles andere als ein Held, sondern vielmehr ein Intrigant. Zwar sind bis heute nicht alle Geschehnisse zur Meuterei einwandfrei geklärt, unzweifelhaft ist allerdings, dass das Bild des Kapitäns von den Angehörigen der Meuterer nachhaltig beschmutzt wurde.

John Boyle legt mit diesem Werk viel mehr als nur eine jugendfreundliche Neufassung der Bounty-Geschichte dar, sondern eine äußerst fesselnde Neuinterpretation, die aus den Augen eines vierzehnjährigen Schiffsjungen eine nah an der Wirklichkeit liegende Version erzählt. John Jacob Turnstile ist der Prototyp des jugendlichen Taschendiebes, der sich auf Englands Straßen des späten 18. Jahrhunderts durchschlägt. Er ist gewitzt und pfiffig, nicht auf den Mund gefallen und trägt dabei das Herz auf dem rechten Fleck. Von der Seefahrt hatte er bislang keine Ahnung und so kommt er zur Bounty wie die Jungfrau zum Kinde. Anfangs ist es vor allem amüsant, seine Eingewöhnung mitzuerleben, die John Jacob alles andere als leicht fällt - oft wird er sich während der zweijährigen Reise wünschen, er wäre doch lieber die Gefängnisstrafe angetreten. Schon lang vor der Meuterei gibt es immer wieder dramatische Szenen mit Orkanen und Streitigkeiten unter der Besatzung. John spürt instinktiv eine Verachtung für den stets pomadierten und parfürmierten Fletcher Christian, der Wert auf seine adlige Herkunft legt sowie für seinen kriecherischen Kameraden Peter Heywood, Johns persönlicher Erzfeind. Durch Johns Augen erlebt der Leser eine fesselnde Handlung, in der sich Dramatik, Humor und Melancholie regelmäßig abwechseln. Besonders bewegend sind die kurzen Einblicke in John früheres Leben, die erst andeutungen und dann erläutern, dass sein Alltag mitnichten nur aus Diebereien bestand. Seit früher Kindheit lebt er im Haus von Mr. Lewis, der ihn zunächst in die Geschicke des Stehlens einwies und mit Essen und Unterkunft versorgte, ehe er John schließlich die wahre Aufgabe abverlangte, die sich Abend für Abend in der Dachkammer mit Herren abspielt, die gerne bereit sind, Mr. Lewis gut zu bezahlen, um dafür mit einem so hübschen Jungen wie John Jacob allein gelassen zu werden. Nie geht John dabei ganz ins Detail, doch allein die Andeutungen seiner schrecklichen Vergangenheit genügen, um sich dem Jungen nah zu fühlen und den Hass zu spüren, den er über all die Jahre auf Mr. Lewis aufgebaut hat.

Sehr positiv fällt auf, dass die Darstellung von Kapitän Bligh sehr vielschichtig gestaltet ist. Zwar wird er im Großen und Ganzen als sympathische Figur präsentiert und somit gänzlich im Gegensatz zum populären Bild, aber nicht als strahlender Held ohne Fehl und Tadel. Bligh legt viel Wert auf Diszplin, wofür er durchaus seine Gründe hat, da er weiß, dass nur so eine Chance besteht, dass eine so weite und anspruchsvolle Reise ohne Verluste gemeistert werden kann. Viele seiner Untergebenen interpretieren dies aber fälschlicherweise als Schikane. Ein gutes Beispiel ist Blighs Anordnung, dass die Männer, er eingeschlossen, täglich eine Stunde tanzen, um sich die Beweglichkeit zu erhalten und den Körper zu schulen - für die Männer ist es allerdings schwer nachvollziehbar, dass dies wirklich Sinn haben soll und sie empfinden es teilweise als Blamage. Auf Tahiti ist Bligh der Einzige, der sich nicht den Verlockungen der verführerischen Südseefrauen hingibt, was ihm den Ruf eines Spießers einbringt. Für Bligh zählt in erster Linie die Mission, nämlich das Ernten der Brotfrüchte - für seine Männer ist diese Mission aber zu abstrakt und sie verstehen nicht die Bedeutung dahinter für das Königreich und die Kolonien. Stattdessen wollen sie Vergnügungen nachgehen, die Sonne und das Essen genießen und sich vor allem die Zeit mit den einheimischen Frauen vertreiben, die keine Scheu oder Berührungsängste oder gar christliche Moral kennen. Die Disziplin sinkt rapide, auch durch Faktoren wie das Ablegen der Uniformen aufgrund der Hitze.

Eine Rolle spielt auch, dass "Kapitän" Bligh offiziell aus Kostengründen sogar gar kein Kapitänsamt bekleidet, sondern lediglich ein Leutnant ist, der das Kommando über das Schiff führt und nur aus Höglichkeit von allen als Kapitän tituliert wird. Die Ernte der Brotfrüchte lässt gleichfalls nach, die Mission droht zu scheitern und Bligh verliert die Geduld. Die einzige Chance, den Zeitplan zu retten sieht er darin, dass die Männer von nun an auf der Bounty übernachten und tagsüber lediglich zur Ernte die Insel betreten dürfen - vorbei ist es mit den Vergnügungen, doch die Männer empfinden dies als ungerechte Strafe. Fletcher Christian und seine Anhänger sind überwältig von der Schönheit der Südsee und haben das Interesse daran verloren, für König Georg Brotfrüchte zu ernten, sie wollen nicht mehr nach England zurück und die Meuterei scheint ihnen das einzige Mittel, um sich ihren Lebenstraum von einer neuen Existenz in der Südsee zu verwirklichen.

Unterm Strich sind Blighs Disziplinarmaßnahmen verständlich und geschehen nie aus Schikane, sondern stets nur im Sinne der könglichen Mission. Allerdings reagiert Bligh des Öfteren durchaus zu ungeduldig, bekommt jähzornige Anfälle und wechselt rasch seine Launen. So sehr John Jacob Turnstile den Kapitän bewundert, manchmal muss auch er eingestehen, dass sich Bligh ein bisschen diplomatischer Verhalten könnte und er vor allem die zunehmende Aufständigkeit seiner Untergebenen unterschätzt. Besonders reizvoll ist das Zusammenspiel mit dem Steuermann Fryer. Fryer gehört zu den sympathischsten und vernünftigsten Charakteren des Romans, doch zwischen ihm und Bligh gibt es von Anfang an Spannungen. Fryer bemüht sich, zwischen den anderen Männern und dem Kapitän zu vermitteln und ist immer bestrebt, Konflikte zu vermeiden, wobei er sich oft den Zorn des Kapitäns zuzieht. Umso interessanter ist es aber, dass sich Fryer von Anfang an gegen die Meuterer ausspricht und ohne Zögern Kapitän Bligh ins Boot folgt und seine persönlichen Animositäten unterordnet.

Die Schwächen des Romans fallen sehr gering aus. Bedauerlicherweise fehlt ein Glossar, in dem man einige Seefahrtsbegriffe hätte aufführen können, ebenso eine Zeittafel und eine Übersicht der Besatzungsmitglieder, damit sich der Leser schnell mit den Namen und Rängen vertraut machen kann. Das Ende hätte auch durchaus ein paar Seiten mehr verkraften können. John Jacob Turnstile gibt nur eine sehr knappe Übersicht, was sich in den Wochen, Monaten und Jahren nach der Rückkehr nach England noch in seinem Leben sowie im Leben der anderen Beteiligten abspielte. Vor allem die unmittelbare Ankunft in England hätte sich zu schildern gelohnt.

Fazit:

Ein hervorragender Jugendroman, der sich genauso gut für Erwachsene eignet, die an einer weitgehend realistischen Schilderung der Geschichte um die Meuterei auf der Bounty interessiert sind. Fiktive Elemente wie die Hauptfigur mischen sich gut mit den historischen Fakten. Spannende Handlung, ausgefeilte Charaktere und eine flüssige Erzählweise zeichnen den Roman aus, das etwas knappe Ende fällt da kaum ins Gewicht.

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