4. Juni 2012

Das verbotene Haus - Joanne Harris

Produktinfos:

Ausgabe: 2006
Seiten: 425
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Die Autorin:

Joanne Harris, Jahrgang 1964, wuchs in England auf, kennt aber durch ihre französische Mutter auch Frankreich sehr gut. Sie studierte in Cambridge Deutsch und Englisch und arbeitete als Lehrerin, ehe sie sich dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr 1999 mit "Chocolat", das auch verfilmt wurde. Weitere Werke: "Wie wilder Wein", "Die blaue Muschel" und "Das Lächeln des Harlekins".

Inhalt:

St. Oswald's ist eine vornehme Privatschule für Jungen. Alles geht hier seit vielen Jahrzehnten seinen Gang, Traditionen werden hochgehalten. Auch von Roy Straitley, letzter Lateinlehrer und mit Mitte sechzig eigentlich schon im Pensionsalter. Von den Kollegen wird der altmodische Straitley bisweilen belächelt, doch seine Schüler verehren ihn, denn bei aller Korrektheit ist er stets fair.

Das neue Schuljahr beginnt wie immer, ein paar neue Lehrer stoßen hinzu, doch dann häufen sich die unangenehmen Vorfälle. Gegenstände verschwinden, Hausmeister und Lehrer werden in Skandale verwickelt, böse Gerüchte und anonyme Anrufe machen die Runde, eine Lehrerin verletzt sich, ein Schüler verschwindet schließlich sogar. Die Kritik von Eltern und Öffentlichkeit nimmt zu, das Kollegium verzweifelt.

Nur Straitley ahnt allmählich, dass keine Schülerstreiche hinter den Vorfällen stecken. Tatsächlich hat sich jemand in die Schule eingeschlichen, der bereits vor fünfzehn Jahren für einen Skandal sorgte. Damals war derjenige ein Kind, das unbedingt dazugehören wollte und die Schule abgöttisch liebte. Heute nimmt derjenige erbitterte Rache mit nur einem Ziel - St. Oswald's zu zerstören ...

Bewertung:

Eine unbescholtene Eliteschule, ein unglückliches Kind und eine späte Rache führt Joanne Harris zu einem gekonnten Thriller zusammen, der weniger durch Action als vielmehr durch Subtilität besticht.

Spannung auf doppelter Ebene

Zwei Handlungsstränge in Gegenwart und Vergangenheit verknüpft die Autorin gelungen zu einer spannenden Geschichte. Da sind einmal die Schilderungen des "Maulwurfs", des ehemaligen Möchtegern-St. Oswald's-Schülers, der sich als neue Lehrkraft unter falscher Identität eingeschleust hat, um die Schule von innen heraus in immer größere Skandale zu verwickeln. Ganz allmählich enthüllt er dem Leser in Rückblicken seine traurige Kindheit. Die Mutter hat die Familie verlassen und in Paris ein neues Leben begonnen, der Vater ist der verachtete Hausmeister, der sich immer tiefer in den Alkohol stürzte, das Kind, nach seinem Nachnamen nur "Snyde" genannt, flüchtet sich in eine Traumwelt, in der es als Julian Pinchback zum strahlenden St. Oswald's gehört statt in die primitive Schule Sunnybank.

Es ist rührend, mitzulesen, wie sich "Julian" nach der Eliteschule sehnt. Zunächst schleicht er nur heimlich auf das Gelände, später klaut er eine Uniform und mischt sich in Pausen und Freistunden wie selbstverständlich unter die Schüler. Er freundet sich mit dem älteren, abenteuerlustigen Leon an, den er bald vergöttert. Doch das Doppelleben wird immer schwerer aufrechtzuerhalten, weder darf ihn der Vater auf seiner Arbeit erwischen, noch darf Leon erfahren, wer hinter "Julian Pinchbeck", angeblich Sohn eines Polizeikommissars, wirklich steckt. Die Freundschaft endet in einer Katastrophe, und damit verschwindet auch Julian Pinchbeck aus der Welt - doch die Person dahinter taucht wieder auf, um sich fünfzehn Jahre später an der einstmals verehrten Schule zu rächen und die Arroganz des Kollegiums zu bestrafen, das sich für unantastbar hält.

Der andere Handlungsstrang wird aus der Perspektive Roy Straitleys erzählt, der langsam, aber sicher ahnt, dass jemand gezielte Anschläge auf St. Oswald's verübt, und den Täter ganz richtig unter ihnen vermutet. Für ordentliche Spannung ist gesorgt - angefangen bei der Frage nach dem Ende von Julian Pinchbecks Doppelleben, das Schicksal seines Vaters, das zwar ab und zu angedeutet aber erst später aufgeklärt wird, Straitleys Ahnungen, die sich immer weiter verdichten, und die Art der Anschläge, die mit Streichen beginnen und in stärksten Verleumdungen münden. Zum Unglück von St. Oswald's ist der "Maulwurf" ein geschickter Computerspezialist, dem es ein Leichtes ist, falsche Fährten zu legen und die Lehrer in schlimmste Situationen zu bringen. Genüsslich streut er seine Intrigen, und es ist bis kurz vor Schluss nicht absehbar, ob es ein halbwegs glückliches Ende geben wird.

Interessante Charaktere

Joanne Harris gelingt es, vielschichtige Charaktere aufzubauen. Da ist der störrische Straitley, ein Dinosaurier unter den Lehrkräften, der wegen seines Zimmers im Glockenturm liebevoll-neckisch als Wasserspeier bezeichnet wird. Straitley ist ein Original, gibt gerne Kommentare in Lateinisch ab und erntet dadurch böse Blicke von neuphilologischen Kollegen, die ihn nicht verstehen. St. Oswald's ist das Leben des überzeugten Junggesellen, der jeden Versuch abwehrt, ihn zur Pensionierung zu bewegen. Er ist einer der wenigen, die die Skandale hinterfragen und vorsichtig mit Schuldzuweisungen umgehen, und dem Leser auf Anhieb sympathisch, ohne ein Allerweltscharakter zu sein.

Der Mörder und Saboteur "Snyde" ist eine Mischung aus gefährlicher Brillanz und tragischer Lebenserfahrung. Während er als Erwachsener ein wenig blass bleibt, ist die Schilderung der Kindheit sehr überzeugend und macht den charakterlichen Verlauf plausibel. Als erfundener St. Oswald's-Schüler Julian Pinchbeck erlebt er die glücklichste Zeit seines Lebens. Jeder Tag ist ein neues Abenteuer in der geliebten Schule, gekrönt von Ausflügen mit dem hübschen, waghalsigen Leon. Umso verstörender sind die Auseinandersetzungen mit dem Vater, der die Trennung von seiner Frau nie überwunden hat und phasenweise ganz im Alkohol versinkt.

Zwischendurch blitzt immer wieder der Versuch der väterlichen Fürsorge auf, doch es ist zu spät, um die Fehler der Vergangenheit wieder auszugleichen. Die traurige Entwicklung vom einsamen, missverstandenen Kind wird überzeugend dargestellt, ohne in reine Klischees zu verfallen. Das restliche Kollegium wird von Straitley mit amüsanten Spitzen beschrieben, wie das bigotte Ehepaar Geoff und Penny Nation, meist "die Vereinten Nationen" genannt, der tatkräftige Pat Bishop, der seit zehn Jahren in einer Beziehung mit Sekretärin Marlene lebt, von der nur die beiden glauben, sie sei geheim, und der hasenfüßige Mr. Timid, der mit seinen Schülern völlig überfordert ist.

Kleine Schwächen

Es ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, dass "Julian Pinchbeck" und Roy Straitley abwechselnd aus der Ich-Perspektive berichten, und durch diese Methode braucht es eine Weile, bis man sich in das Buch eingefühlt hat, zumal immer an einem spannenden Punkt wieder die Perspektive wechselt, was mit der Zeit ein wenig überstrapaziert wird. Das Hauptmanko besteht aber darin, dass gegen Ende bei der Lüftung von "Julians" Identität eine Überraschung präsentiert wird, die gar nicht nötig gewesen wäre. Das Werk lebt eigentlich davon, dass es sich um einen Why-dunnit-Plot handelt und es nicht darum geht, den Täter zu erraten. Der Clou am Schluss lenkt die Aufmerksamkeit unnötig auf die Person des Täters, der sich noch besser verstecken konnte als angenommen. Damit wird die Stärke des Romans ein wenig verschenkt, der bis dato gut auf einen Knalleffekt verzichten konnte.

Fazit:

Ein ungewöhnlicher Thriller über eine Eliteschule und späte Rache, der durch interessante Charaktere und Spannung bis zum Schluss lebt. Negativ fällt nur die etwas übertriebene Wendung am Schluss auf, die von der eigentlichen Stärke der Handlung ablenkt.

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