3. Juni 2012

Callander Square - Anne Perry

Produktinfos:

Ausgabe: 2003
Seiten: 284
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Die Autorin:

Anne Perry wurde 1938 als Juliet Hume in London geboren. 1954 beging sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin einen Verzweiflungsmord an deren Mutter, der ihnen eine Haftstrafe einbrachte. Der Fall wurde als "Heavenly Creatures" verfilmt. Nach ihrer Entlassung nahm Perry ihren heutigen Namen an und begann in den sechziger Jahren zu schreiben. 1979 veröffentlichte sie mit "The Cater Street Hangman" ihren ersten Roman. Seither hat sie Dutzende von Büchern in mehreren Reihen herausgebracht. Am bekanntesten sind ihre Inspector-Pitt- und Privatdetektiv-Monk-Romane, die jeweils im viktorianischen London spielen.

Inhalt:

London, 1883: Zwei Jahre sind seit der Hochzeit zwischen Inspector Pitt und Charlotte Ellison vergangen. Charlotte erwartet das erste Kind und ist, trotz der nun deutlich bescheideneren Verhältnisse als in ihrem Elternhaus, sehr glücklich. Da erschüttert ein grausiger Vorfall die Bewohner am Callander Square, einem kleinen Platz inmitten vornehmer Häuser. Bei Gartenarbeiten werden zwei Babyskelette entdeckt, gestorben vor etwa sechs Monaten und zwei Jahren. Die Todesursache kann nicht mehr geklärt werden, und Inspector Pitt beginnt zu ermitteln.

Der Skandal sorgt für große Beunruhigung unter den Häusern am Callander Square. Zum einen vermutet die Polizei, dass ein verzweifeltes Dienstmädchen seine ungewollten Kinder dort begraben haben könnte, vielleicht unter dem Druck ihren Herrn. Zum anderen wird auch nicht ausgeschlossen, dass eine Dame der Gesellschaft hinter der Tat stecken kann. Thomas Pitt hat alle Mühe, an nützliche Informationen zu gelangen, da die Familien Einmischungen fürchten.

Währenddessen interessieren sich auch Charlotte und ihre Schwester Emily für den Fall. Emily nutzt ihre angesehene Stellung als Lady, um sich in die Häuser der verdächtigen Familien einzuladen. Sie beschafft Charlotte eine Stelle als Hilfskraft bei General Balantyne, damit sie sich dort unauffällig umhören kann. Tatsächlich stoßen die beiden Frauen auf dunkle Geheimnisse - und es tauchen noch weitere Tote auf ...

Bewertung:

Der zweite Fall des originellen Duos Thomas Pitt und Charlotte Ellison führt die mittlerweile sehr umfangreiche Reihe überzeugend fort, wenn auch nicht frei von Mängeln.

Komplizierte Ermittlungen

Es ist ein ungewöhnlicher Fall, in dem Inspector Pitt hier ermittelt: Es ist noch nicht einmal klar, ob überhaupt um Mord handelt, ob die Babys vielleicht tot geboren wurden oder vielleicht zumindest ohne Fremdverschulden gestorben sind. Dazu kommt, dass die letzte Tat ein halbes Jahr zurückliegt und es in diesem Zeitraum mehr als schwer ist, den möglichen Hergang und die Umstände zu rekonstruieren. Während man heute dank der modernen Forensik viele Aufschlüsse anhand der menschlichen Überreste ziehen könnte, sind die Erkenntnisse des Arztes im viktorianischen London eher dürftig. Sicher ist nur, dass ein Kind mit einem missgebildeten Kopf geboren wurde, während das andere vermutlich gesund entwickelt war - aber das hilft Pitt anfangs natürlich so gut wie gar nicht weiter. Schon bald stellt sich heraus, dass mehrere der feinen Herren rund um den Callander Square ein Faible für hübsche Dienstmädchen besitzen und in den Fall verwickelt sein könnten - so wie es offenbar auch unplanmäßige Schwangerschaften unter den jungen Damen dort gibt. Thomas Pitt stößt mit seinen Ermittlungen in ein Wespennest. Die feine Gesellschaft muss Federn lassen; Betrügereien, Erpressung und ein pikantes Geheimnis aus der Vergangenheit kommen ins Spiel.

Interessant ist neben der rein kriminologischen Handlung die Doppelmoral der Gesellschaft: Während es für viele angesehene Männer selbstverständlich ist, dass sie sich mit Dienstmädchen einlassen und erwarten, dass ihre Ehefrauen dies stillschweigend tolerieren, gilt für Frauen diese Akzeptanz ganz und gar nicht. Eine ähnliche leichtlebige Frau wird als Hure verschrien und von der Gesellschaft geächtet; eine Dame, die sich mit einem Diener einlässt, versetzt ihre Eltern einen weit größeren Schock, als es ein Sohn könnte. Dabei werden die Klatschsucht und die penible Einhaltung der Etikette von Anne Perry fast schon satirisch aufs Korn genommen - die neuesten Gerüchte über einen Faux Pas einer Bekannten können manch oberflächliche Dame stundenlang amüsieren, und praktischerweise weiß Emily genau, mit welchen Schmeicheleien sie die Frauen einwickeln kann, die ihr durch Plauderei wichtige Informationen verraten können. Gespannt verfolgt man, wie sich erst vage Indizien für Verdächtigungen, die sowohl Emily und Charlotte als auch Thomas zusammentragen, langsam konkretisieren, bis nicht allzu früh der Täter feststeht.

Teilweise interessante Charaktere

Charlotte und Thomas Pitt überzeugen wie im ersten Band durch ihre unkonventionellen Ansichten, die sich nicht in ein steifes Korsett der Gesellschaft zwängen lassen. Thomas Pitt erregt bei seinen Befragungen zunehmend Missfallen mit seiner Direktheit, seiner unordentlichen Frisur und seiner einfachen Kleidung, wenn er auch, wie manch einer ungern zugibt, sich wie ein Gentleman ausdrücken kann. Auch ein Polizeiinspektor gehört zur Arbeiterklasse, über die man am Callander Square die Nase rümpft, ein interessanter Gegensatz zur heutigen Zeit.

Eine liebenswerte Gestalt ist die warmherzige Gouvernante Jemina, mit der Charlotte rasch eine Art Freundschaft schließt. Ansonsten ist vor allem die Figur des General Balanthyne gelungen. Charlotte schleust sich in sein Haus ein, indem sie ihm bei der Bearbeitung seiner militärischen Familiengeschichte hilft - eigentlich ein Vorwand, um sich auf dem Callander Square unauffällig umhören zu können. Allerdings interessiert sich Charlotte für eine Frau dieser Zeit ungewöhnlich stark für Geschichte und Politik und verfolgt ihre Aufgabe mit echter Leidenschaft. Der ältere, seriöse General ist zunächst verwundert über die Kenntnisse der jungen Frau, empfindet aber schon bald Zuneigung für sie - mehr, als ihm recht ist. Fast ist es schade, dass aus diesen Gefühlen nichts werden kann, denn der General ist einer der wenigen sympathischen Bewohner am Callander Square.

Kleine Schwächen

Zum einen ist es bedauerlich, dass der zweite Band geschlagene zwei Jahre nach dem ersten Werk spielt. Sowohl die Hochzeit als auch den Beginn des Ehelebens und die Reaktionen von Charlottes Familie erlebt man also nicht mit, sondern bekommt sie nur im Schnelldurchlauf erwähnt. Überhaupt ist es ärgerlich, dass Charlottes Familie, um die sich viel im ersten Band drehte, bis auf Emily gar nicht im Buch vorkommt. Fast ist man geneigt zu glauben, dass man nicht den zweiten, sondern vielleicht bereits den fünften Band in der Hand hält, da so viele Ereignisse in der Zwischenzeit übergangen wurden - inklusive der Hochzeit von Emily und Lord Ashworth, die im ersten Band auch nur angedeutet wurde.

Des Weiteren braucht es ein bisschen zu lange, bis die einzelnen Bewohner des Callander Squares an Profil gewinnen, sodass man wirklich mitfiebern kann, wer von ihnen der Täter sein könnte. Die Auflösung ist letztlich dann zwar plausibel, aber Thomas Pitt gelangt etwas zu plötzlich zu seiner Erkenntnis, die man sich besser begründet wünscht, damit es nicht zu sehr geraten wirkt.

Zudem darf man kein authentisches Porträt der viktorianischen Gesellschaft erwarten; freilich sind Charlotte und Emily eher moderne Frauencharaktere, die zur Identifizierung einladen, und keine realistischen Figuren des 19. Jahrhunderts.

Fazit:

Ein gelungener Nachfolger des Beginns der Thomas-Pitt-Reihe mit einer spannenden Krimihandlung, die nicht zu leicht zu durchschauen ist. Kleine Schwächen liegen im zu großen Zeitsprung nach dem ersten Band und den teilweise etwas zu blassen Nebencharakteren.

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