20. Juli 2012

Solange du lügst - Sarah Waters

Produktinfos:

Ausgabe: 2003
Seiten: 624
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Die Autorin:

Sarah Waters wurde 1966 in Wales geboren. Sie studierte englische Literatur und schrieb ihre Dissertation über Homosexualität in der Literatur, was ihr häufig als Inspiration für ihre Werke dient. Mittlerweile erhielt sie zahlreiche Preise, z.B. den British Book Awards Author of the Year, den Crime Writers' Association Ellis Peters Historical Dagger, den Sunday Times Young Writer of the Year Award und war für den Booker Prize nominiert. Weitere Werke von ihr sind "Die Muschelöffnerin", "Die Frauen von London", "Selinas Geister" und Der Besucher.

Inhalt:

London um 1865: Die siebzehnjährige Susan Trinder ist eine Waise. Ihr Vater ist unbekannt, ihre Mutter wurde kurz nach Susans Geburt als Raubmörderin gehängt. Seither lebt Susan im Haus von Mrs. Sucksby, die Kinder aufnimmt und zu Dieben ausbildet. Die gestohlenen Wertgegenstände werden vom stillen Mr. Ibbs eingeschmolzen und zu Geld gemacht. Je älter Susan wird, desto offenkundiger wird die scheinbar grundlose Bevorzugung durch Mrs. Sucksby.

An einem Winterabend kommt Gentleman zu Besuch, ein junger Mann, den alle im Haus wegen seines guten Aussehens nur bei diesem Spitznamen kennen. Einmal im Jahr bringt er Diebesgut für Mr. Ibbs, doch diesmal legt er einen außergewöhnlichen Plan vor. Susan soll als Zofe bei der jungen Adeligen Maud Lily arbeiten und Gentleman dazu verhelfen, dass sie ihn heiratet. Die junge naive Frau lebt zurückgezogen mit ihrem alten Onkel und wird nach der Hochzeit ein großes Vermögen erhalten. Anschließend will Gentleman sie in ein Irrenhaus abschieben und das Vermögen mit Susan teilen.

Zögernd willigt Susan ein. Ihre neue Herrin entpuppt sich als scheues Mädchen, das Anwesen als düster, der Onkel als unfreundlich und dominant. Mit der Zeit entwickelt Susan eine Sympathie für Maud. Immer unwohler wird ihr bei dem Gedanken, die junge Frau zu hintergehen. Doch als es schließlich soweit ist, muss Susan erkennen, dass auch sie ein Teil einer Intrige geworden ist und weiß nicht, wem sie noch vertrauen kann ...

Bewertung:


Völlig zu Recht wurde Sarah Waters' Roman für den Booker Prize nominiert und erfüllt auch alle Erwartungen, die mit der Ankündigung einer Mischung aus Charles Dickens und Daphne du Maurier geweckt wurden.

Spannend und wendungsreich

Das viktorianische Zeitalter ist seit jeher prädestiniert für düstere Handlungen voller Geheimnisse und unheimlicher Schauplätze. Der Leser wird zurückversetzt in eine Zeit der riesigen Herrenhäuser mit ihren steifen Herren und den ergeben Dienstboten, in die schmutzigen Straßen von London mit den elenden Armenvierteln, Waisenkindern und Diebesbanden, finsteren Spelunken, Droschken in engen Gassen, in die Zeit menschenunwürdiger Irrenhäuser und zweifelhafter Heilmethoden.

Gefesselt verfolgt man die Schicksale von Susan und Maud Lily: Man fragt sich, ob Susan ihre Rolle als Zofe glaubwürdig spielt oder ob sie vorzeitig als Hochstaplerin entlarvt wird, wie sie auf dem Anwesen von Maud Lily und deren Onkel aufgenommen wird, ob sie tatsächlich wie geplant das Vertrauen ihrer neuen Herrin gewinnen und sie zur Heirat mit Gentleman überreden kann und ob der Plan der beiden Gauner aufgeht, die junge Frau zu entmündigen und an ihr Vermögen zu gelangen. Bald gesellt sich der Zwiespalt von Susan hinzu, der mit der Zeit immer größer wird. Immer schwerer fällt ihr der Gedanke, Maud zu hintergehen, immer unsympathischer wird ihr dagegen ihr Verbündeter Gentleman, doch nach wie vor fühlt sie sich zu der Tat gezwungen, nicht zuletzt, weil sie ihre Ziehmutter Mrs. Sucksby auf keinen Fall enttäuschen will.

Als verspräche diese Handlung nicht ohnehin schon viel Spannung, werden die Ereignisse durch plötzliche Wendungen mehrfach auf den Kopf gestellt. Nach dem ersten Drittel wechselt die Erzählperspektive von Susan zu Maud um im letzten Drittel wieder zu Susan zurückzukehren. Vor allem im zweiten Teil werden viele vorherige Geschehnisse durch die neue Sichtweise relativiert und in ein gänzlich anderes Licht gestellt. Etliche Sätze erhalten eine neue Bedeutung, ebenso Mauds Onkel und seine akribische Bibliotheksarbeit, der Plot scheint sich in eine andere Richtung zu bewegen - doch auch diese ist noch nicht endgültig, wieder wird die Handlung durch eine Wendung gekippt, sodass man bis kurz vor Schluss nicht sicher sein kann, wem man in diesem Werk trauen kann und wer am Ende triumphieren wird. Trotz des kompliziertes Geflechtes, das die Lebensgeschichten der Hauptfiguren Susan und Maud mit einschließt, verliert die Autorin nicht den Überblick, sondern fügt alle Fäden folgerichtig zusammen und zwar so verständlich, dass auch dem Leser keine offenen Fragen mehr bleiben.

Gelungene Charaktere

Im Mittelpunkt steht die Diebin und Betrügerin Susan, die zwar einerseits Sympathien erweckt, aber alles andere als eine strahlende Heldin ist. Auch wenn sie zunächst zögert, in Gentlemans kaltblütigen Plan einzustimmen, so überwiegt letztlich doch die Verlockung durch die versprochenen dreitausend Pfund, die an sie fallen und ihr ein neues, sicheres Leben ermöglichen sollen. Daran hält sie auch noch lange fest, als sie ihr Opfer näher kennengelernt hat und das Bedürfnis verspürt, die zarte, kindliche Maud zu beschützen. Obwohl Susan eine Betrügerin ist, fiebert der Leser mit ihr, bangt, ob ihre Tarnung standhalten wird oder nicht und ob sich ihre Zweifel ausweiten werden.

Maud Lily ist dagegen ein schwer durchschaubarer Charakter. Im Gegensatz zur abgehärteten Susan erscheint sie elfenhaft und kindlich, ein scheues Reh, das das Haus nicht verlässt und sich vor dem strengen Onkel fürchtet. Erst auf den zweiten Blick, sprich, wenn Maud selbst zu Wort kommt, erkennt man ihre Facetten, die dann umso mehr überraschen. Sie ist beileibe nicht so naiv, wie sie ausschaut, doch ebenso wie bei Susan verschwimmen die Grenzen zwischen Täter und Opfer und machen aus den beiden Figuren faszinierende Charaktere mit Tiefe, ohne an Plausibilität einzubüßen. Auf jeder Seite spürt der Leser die sich immer stärker ausbreitende Hassliebe zwischen den Frauen, schwankt dabei selbst, für wen er Partei ergreifen soll und vermag das Ende der Entwicklung nicht vorauszusehen. Schwer einzuschätzen sind auch die restlichen Charaktere, der düstere Onkel mit seiner Besessenheit für Bücher, der charmante Gentleman mit seinem durchtriebenen Plan, die alte Mrs. Sucksby, in der Susan einen Mutterersatz sieht und die auch so viel doppelbödiger ist, als man glauben mag.

Kaum Schwächen

Will man dem Buch überhaupt etwas ankreiden, dann ist es vielleicht die Komplexität der verschachtelten Handlung, ein Übermaß an überraschenden Wendungen, bei denen eine jede scheinbar versucht, die vorangegangene zu übertrumpfen. Die spektakulären Enthüllungen überschlagen sich gegen Ende beinah, dabei bietet die Handlung ohnehin schon genug unterhaltsamen Stoff. Zudem findet sich im ansonsten hieb- und stichfesten Plan Gentlemans ein kleines Logikloch, da - ohne zu viel verraten zu wollen - zwei Personen als Zeugen theoretisch ihm einen Strich durch die Rechnung hätten machen können. Dass sie nicht konsultiert werden ist eher Glückssache und konnte im Vorhinein nicht ausgeschlossen werden.

Fazit:

Ein durchweg spannender historischer Thriller voller Wendungen und Überraschungen bis zum Schluss. Das viktorianische Zeitalter bietet die perfekte Kulisse für geheimnisvolle Machenschaften und düstere Schauplätze. Die beiden Hauptfiguren faszinieren und überzeugen durch ihre Undurchsichtigkeit und facettenreichen Charakterzüge. Lediglich die übertrieben häufigen Wendungen fallen ein bisschen negativ auf.

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