Produktinfos:
Ausgabe: 2005
Seiten: 570
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* * * * *
Der Autor:
Andrew Taylor wurde 1951 in England geboren und studierte in Cambridge. Seit 1981 widmet er sich hauptberuflich dem Schreiben. Sein Spezialgebiet sind Kriminalromane. Zu seinen weiteren Werken zählen unter anderem die Lydmouth-Serie und die Roth-Trilogie.
Inhalt:
London, 1819. Der mittellose Lehrer Thomas Shield erhält eine Stelle in einem Internat außerhalb der Stadt. Für den jungen Mann, der immer noch unter den traumatischen Folgen seines Kriegseinsatzes leidet, ist diese Arbeit ein großer Glücksfall. Zu seinen Schülern gehören auch die beiden zehnjährigen Jungen Edgar Allan und Charlie Frant, die sich wie Brüder ähneln und vom ersten Tag an die besten Freunde sind. Edgar ist ein kleiner Amerikaner, der von den Allans adoptiert wurde. Charlie ist der Sohn von Henry Frant, einem wohlhabenden Bankier, dem Teilhaber der berühmten Wavenhoe-Bank.
Nachdem Thomas Shield die Jungen einmal auf der Straße vor den Nachstellungen eines verwahrlosten Mannes bewahrte, kommt er in Kontakt mit der Familie Frant. Vor allem zu Charlies Mutter, Sophie Frant, fühlt er sich auf unerklärliche Weise hingezogen, aber auch Charlies Cousine, die kokette Flora Carswell, verwirrt seine Sinne. Hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen nutzt er bald jede Gelegenheit, um den Frants einen Besuch abzustatten.
Nach dem Tod des Gründers George Wavenhoe gerät die Bank in den Ruin. Als sich herausstellt, dass Henry Frant seine Kunden betrogen hat, steht die Familie Frant vor dem Bankrott. Kurz darauf wird die bis ins Unkenntliche zugerichtete Leiche eines Mannes gefunden, der als Henry Frant identifiziert wird. Die Witwe und der kleine Charlie werden von ihren Verwandten, den Carswells, aufgenommen und ziehen auf ihren Landsitz. Thomas Shield befürchtet, die verehrte Sophie Frant nie wieder zu sehen - doch stattdessen engagiert ihn die Familie als Hauslehrer. In der Zeit auf dem Anwesen der Carswells gerät Thomas in ein Netz aus Intrigen und weiß schon bald nicht mehr, wem er trauen darf. Was hat es mit dem geheimnisvollen David Poe auf sich, der behauptet, er sei Edgar Allans Vater? Handelt es sich bei dem Ermordeten wirklich um den verschwundenen Henry Frant? In einer verschneiten Winternacht kommt es schließlich zu einem weiteren mysteriösen Todesfall ...
Bewertung:
Neblige Nächte, dunkle Gassen, verwinkelte Herrenhäuser und weite Wälder - "Der Schlaf der Toten" besitzt alle Elemente, die man von einem Schauerkrimi erwartet. In gekonnter Manier zieht Taylor seinen Leser hinein ins viktorianische England, lässt ihn teilhaben an den Aufzeichnungen des jungen Thomas Shield und konfrontiert ihn mit einer Reihe von seltsamen Vorgängen, die sich immer weiter zu einem undurchdringbaren Geflecht aus Lügen und Intrigen zu verstricken scheinen. Von kleinen Einschränkungen abgesehen liegt hier ein überzeugender und fesselnder Historienkrimi vor, der nicht zu Unrecht mit dem "Historical Dagger" ausgezeichnet wurde.
~ Überzeugende Charaktere ~
Ein großer Verdienst des Romans ist zweifelsohne die Identifizierung des Lesers mit der Hauptfigur, dem Ich-Erzähler Thomas Shield. Schnell zu Beginn wird klar, dass es sich hier um keinen strahlenden Helden handelt, sondern um einen Charakter mit Hang zur Labilität. Aufgewachsen ohne Mutter, verstarb sein Vater vor Beendigung des Studiums, so dass Thomas aus Geldmangel die Universität vorzeitig verlassen musste. Die traumatische Kriegserfahrung erforderte ärztlichen Beistand und ein unbeherrschter Gefühlsausbruch ließ ihn seine Stelle verlieren. Trotz des unerwartet großzügigen Erbes seiner Tante ist Thomas Shield kein Gewinner, sondern ein einsamer und verletzlicher junger Mann, für den man sich gerne ein bisschen Glück erhofft, mit dem man leidet, mit dem man hofft und dessen Schicksal einen spätestens in der zweiten Hälfte des Buches vollends in den Bann zieht.
Längst nicht so intensiv, aber doch lebendig und anschaulich empfindet man die restlichen Charaktere, allen voran die Mitglieder der Familie Frant und ihr Umfeld: Die zarte Sophie, die ihre eigenen Gefühle hinter das Glück ihres Sohnes stellt und deren zurückhaltende, undurchschaubare Art auf den Leser ähnlich faszinierend wirkt wie auf Thomas Shield; der kleine Charlie mit dem sensiblen Gemüt, der sich im Internat zunächst so verloren fühlt und durch mit Hilfe seines Freundes Edgar die schwere Zeit übersteht; der undurchsichtige Henry Frant, der noch nach seinem Tod seine Familie ins Verderben reißt und die reizvolle Miss Carswell, die es liebt, Thomas Shield in Verlegenheit zu bringen und immer wieder neue Verwirrungen provoziert. In dieser Charakterfülle liegt womöglich auch eine kleine Schwäche des Romans, da viele Figuren Erwartungen wecken, die sie unterm Strich nicht unbedingt halten können. Von manch einer Person erhofft man sich während des Lesens noch eine größere Beteiligung an der Handlung oder gar eine Schlüsselrolle, muss am Ende jedoch feststellen, dass es wirklich bei einem Nebencharakter geblieben ist, der für die Handlung keine überraschende Bedeutung mehr beiträgt.
~ Hommage an Poe ~
Versierte Leser werden bereits bei der Erwähnung des kleinen "Edgar Allan" aufmerken, offensichtlich wird es spätestens dann, wenn ein gewisser David Poe ins Spiel kommt: Der zehnjährige Schüler von Thomas Shield, dessen Rolle einiges zu den Rätseln im Verlauf der Handlung beiträgt, ist niemand anderes als Edgar Allan Poe, der berühmte Schriftsteller, der später mit seinen detektivischen und unheimlichen Kurzgeschichten in die Weltliteratur eingehen sollte. Im Anhang an den Roman finden sich dementsprechende biographische Anmerkungen des Autors zu Poes Leben und Werk. In behutsamer Manier wird hier versucht, die dunklen Jahre von Poes Schulzeit in Einklang mit der Romanhandlung zu bringen. Hier ist die Ähnlichkeit mit Charlie Frant eine Inspiration für Poe beliebtes Doppelgängermotiv; hier erinnert der Rabe aus dem gleichnamigen Gedicht bewusst an den sprechenden Papagei, der zwar nicht "Nevermore", dafür aber "Ayez peur" vor sich hin krächzt und hier gelten die überlieferten Worte auf dem Sterbebett dem ehemaligen Lehrer.
Andrew Taylor kombiniert mit viel Geschick eine fiktive Handlung um das düstere Leben des großen Schriftstellers, ohne dabei je zu weit zu gehen und den Namen Poe als bloßen Aufhänger für seine Geschichte zu benutzen. Erfreulicherweise ist genau das Gegenteil der Fall: Trotz seiner Bedeutung für den Verlauf der Handlung drängt sich Edgar Allans Gestalt nie in den Vordergrund. Die Hauptfigur ist und war, auch trotz des Originaltitels "The American Boy", Thomas Shield und dem kleinen Edgar bleibt die Rolle des ungezähmten Schülers, der wie nebenbei durch scheinbare Nebensächlichkeiten den Geschehnissen immer wieder neuen Auftrieb verleiht.
~ Zwischen Schauerkrimi und Sittenbild ~
Mit knapp 570 Seiten kommt der Roman recht umfassend daher, was vor allem im Vergleich mit der tatsächlich geschilderten Handlung auffällt. Oftmals muss der Leser seine Geduld unter Beweis stellen, wenn es wieder einmal an ausufernde Passagen geht, in denen nicht wirklich viel passiert, sondern das Geschehen ruhig vor sich hin plätschert. Kleidungen und Örtlichkeiten werden ebenso ausführlich beschrieben wie belanglose Gespräche und gesellschaftliche Etikette. Hin und wieder ertappt man sich dabei, dass man geradezu auf das nächste bemerkenswerte Ereignis lauert. Andre Taylors Schilderungen geraten nie langweilig, so dass man etwa Gefahr liefe, das Buch vorzeitig aus der Hand zu legen - doch er bewegt sich unzweifelhaft hart an der Grenze und reizt die Ausdauer seiner Leser gehörig aus. "Der Schlaf der Toten" ist kein Thriller im modernen Sinne, der dem Leser atemlose Spannung von der ersten bis zur letzten Seite verspricht und der alle seitenlang mit neuen Enthüllungen aufwartet.
Stattdessen lullen einen die atmosphärischen Beschreibungen ein, ziehen einen mit hinein die Welt des Thomas Shield, die nach außen hin so malerisch wirkt und hinter deren Fassade düstere Abgründe lauern. Das Werk ist nicht nur ein Historienkrimi mit Anleihen an den Schauerroman, sondern auch ein Sittengemälde der viktorianischen Zeit. An der Person des mittellosen Thomas Shield, der sich auf dem Parkett der gehobenen Kreisen bewegt, wird die Zwiespältigkeit dieser Gesellschaft deutlich. Shield wird nie als ihresgleichen angesehen, obwohl er im Gegenzug über den gewöhnlichen Bediensteten steht.
Dem modernen Leser mögen die häufigen Verbeugungen und Ehrerbietungen, die Gedanken über Schicklichkeit und Contenance zunächst befremdlich vorkommen und doch versetzt man sich rasch hinein in diese Welt der großen Bälle, der Herrenhäuser, der Droschken und der knicksenden Dienstmädchen. Diese Welt, die sich par excellence als Folie für mysteriöse Vorkommnisse eignet, beispielsweise in einer verschneiten Winternacht, in der Thomas über den Landsitz der Carswells irrt und die verschwundenen Jungen sucht, während in der Ferne der Wälder eine tödliche Wilderer-Falle zuschnappt ...
Fazit:
Ein faszinierender Schauerkrimi aus dem viktorianischen England, der geschickt eine fiktive Handlung mit Todesfällen in der gehobenen Gesellschaft mit der Biographie des Schriftstellers Edgar Allan Poe verbindet. Die ausschmückende Sprache und die detailreichen Schilderungen von Nebensächlichkeiten sorgen für die eine oder andere Länge, doch insgesamt bietet sich ein spannender Roman voller Rätsel und lebensechten Charakteren, allen voran der Ich-Erzähler Thomas Shield, die ein unterhaltsames und fesselndes Lese-Erlebnis vermitteln.
Ausgabe: 2005
Seiten: 570
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Der Autor:
Andrew Taylor wurde 1951 in England geboren und studierte in Cambridge. Seit 1981 widmet er sich hauptberuflich dem Schreiben. Sein Spezialgebiet sind Kriminalromane. Zu seinen weiteren Werken zählen unter anderem die Lydmouth-Serie und die Roth-Trilogie.
Inhalt:
London, 1819. Der mittellose Lehrer Thomas Shield erhält eine Stelle in einem Internat außerhalb der Stadt. Für den jungen Mann, der immer noch unter den traumatischen Folgen seines Kriegseinsatzes leidet, ist diese Arbeit ein großer Glücksfall. Zu seinen Schülern gehören auch die beiden zehnjährigen Jungen Edgar Allan und Charlie Frant, die sich wie Brüder ähneln und vom ersten Tag an die besten Freunde sind. Edgar ist ein kleiner Amerikaner, der von den Allans adoptiert wurde. Charlie ist der Sohn von Henry Frant, einem wohlhabenden Bankier, dem Teilhaber der berühmten Wavenhoe-Bank.
Nachdem Thomas Shield die Jungen einmal auf der Straße vor den Nachstellungen eines verwahrlosten Mannes bewahrte, kommt er in Kontakt mit der Familie Frant. Vor allem zu Charlies Mutter, Sophie Frant, fühlt er sich auf unerklärliche Weise hingezogen, aber auch Charlies Cousine, die kokette Flora Carswell, verwirrt seine Sinne. Hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen nutzt er bald jede Gelegenheit, um den Frants einen Besuch abzustatten.
Nach dem Tod des Gründers George Wavenhoe gerät die Bank in den Ruin. Als sich herausstellt, dass Henry Frant seine Kunden betrogen hat, steht die Familie Frant vor dem Bankrott. Kurz darauf wird die bis ins Unkenntliche zugerichtete Leiche eines Mannes gefunden, der als Henry Frant identifiziert wird. Die Witwe und der kleine Charlie werden von ihren Verwandten, den Carswells, aufgenommen und ziehen auf ihren Landsitz. Thomas Shield befürchtet, die verehrte Sophie Frant nie wieder zu sehen - doch stattdessen engagiert ihn die Familie als Hauslehrer. In der Zeit auf dem Anwesen der Carswells gerät Thomas in ein Netz aus Intrigen und weiß schon bald nicht mehr, wem er trauen darf. Was hat es mit dem geheimnisvollen David Poe auf sich, der behauptet, er sei Edgar Allans Vater? Handelt es sich bei dem Ermordeten wirklich um den verschwundenen Henry Frant? In einer verschneiten Winternacht kommt es schließlich zu einem weiteren mysteriösen Todesfall ...
Bewertung:
Neblige Nächte, dunkle Gassen, verwinkelte Herrenhäuser und weite Wälder - "Der Schlaf der Toten" besitzt alle Elemente, die man von einem Schauerkrimi erwartet. In gekonnter Manier zieht Taylor seinen Leser hinein ins viktorianische England, lässt ihn teilhaben an den Aufzeichnungen des jungen Thomas Shield und konfrontiert ihn mit einer Reihe von seltsamen Vorgängen, die sich immer weiter zu einem undurchdringbaren Geflecht aus Lügen und Intrigen zu verstricken scheinen. Von kleinen Einschränkungen abgesehen liegt hier ein überzeugender und fesselnder Historienkrimi vor, der nicht zu Unrecht mit dem "Historical Dagger" ausgezeichnet wurde.
~ Überzeugende Charaktere ~
Ein großer Verdienst des Romans ist zweifelsohne die Identifizierung des Lesers mit der Hauptfigur, dem Ich-Erzähler Thomas Shield. Schnell zu Beginn wird klar, dass es sich hier um keinen strahlenden Helden handelt, sondern um einen Charakter mit Hang zur Labilität. Aufgewachsen ohne Mutter, verstarb sein Vater vor Beendigung des Studiums, so dass Thomas aus Geldmangel die Universität vorzeitig verlassen musste. Die traumatische Kriegserfahrung erforderte ärztlichen Beistand und ein unbeherrschter Gefühlsausbruch ließ ihn seine Stelle verlieren. Trotz des unerwartet großzügigen Erbes seiner Tante ist Thomas Shield kein Gewinner, sondern ein einsamer und verletzlicher junger Mann, für den man sich gerne ein bisschen Glück erhofft, mit dem man leidet, mit dem man hofft und dessen Schicksal einen spätestens in der zweiten Hälfte des Buches vollends in den Bann zieht.
Längst nicht so intensiv, aber doch lebendig und anschaulich empfindet man die restlichen Charaktere, allen voran die Mitglieder der Familie Frant und ihr Umfeld: Die zarte Sophie, die ihre eigenen Gefühle hinter das Glück ihres Sohnes stellt und deren zurückhaltende, undurchschaubare Art auf den Leser ähnlich faszinierend wirkt wie auf Thomas Shield; der kleine Charlie mit dem sensiblen Gemüt, der sich im Internat zunächst so verloren fühlt und durch mit Hilfe seines Freundes Edgar die schwere Zeit übersteht; der undurchsichtige Henry Frant, der noch nach seinem Tod seine Familie ins Verderben reißt und die reizvolle Miss Carswell, die es liebt, Thomas Shield in Verlegenheit zu bringen und immer wieder neue Verwirrungen provoziert. In dieser Charakterfülle liegt womöglich auch eine kleine Schwäche des Romans, da viele Figuren Erwartungen wecken, die sie unterm Strich nicht unbedingt halten können. Von manch einer Person erhofft man sich während des Lesens noch eine größere Beteiligung an der Handlung oder gar eine Schlüsselrolle, muss am Ende jedoch feststellen, dass es wirklich bei einem Nebencharakter geblieben ist, der für die Handlung keine überraschende Bedeutung mehr beiträgt.
~ Hommage an Poe ~
Versierte Leser werden bereits bei der Erwähnung des kleinen "Edgar Allan" aufmerken, offensichtlich wird es spätestens dann, wenn ein gewisser David Poe ins Spiel kommt: Der zehnjährige Schüler von Thomas Shield, dessen Rolle einiges zu den Rätseln im Verlauf der Handlung beiträgt, ist niemand anderes als Edgar Allan Poe, der berühmte Schriftsteller, der später mit seinen detektivischen und unheimlichen Kurzgeschichten in die Weltliteratur eingehen sollte. Im Anhang an den Roman finden sich dementsprechende biographische Anmerkungen des Autors zu Poes Leben und Werk. In behutsamer Manier wird hier versucht, die dunklen Jahre von Poes Schulzeit in Einklang mit der Romanhandlung zu bringen. Hier ist die Ähnlichkeit mit Charlie Frant eine Inspiration für Poe beliebtes Doppelgängermotiv; hier erinnert der Rabe aus dem gleichnamigen Gedicht bewusst an den sprechenden Papagei, der zwar nicht "Nevermore", dafür aber "Ayez peur" vor sich hin krächzt und hier gelten die überlieferten Worte auf dem Sterbebett dem ehemaligen Lehrer.
Andrew Taylor kombiniert mit viel Geschick eine fiktive Handlung um das düstere Leben des großen Schriftstellers, ohne dabei je zu weit zu gehen und den Namen Poe als bloßen Aufhänger für seine Geschichte zu benutzen. Erfreulicherweise ist genau das Gegenteil der Fall: Trotz seiner Bedeutung für den Verlauf der Handlung drängt sich Edgar Allans Gestalt nie in den Vordergrund. Die Hauptfigur ist und war, auch trotz des Originaltitels "The American Boy", Thomas Shield und dem kleinen Edgar bleibt die Rolle des ungezähmten Schülers, der wie nebenbei durch scheinbare Nebensächlichkeiten den Geschehnissen immer wieder neuen Auftrieb verleiht.
~ Zwischen Schauerkrimi und Sittenbild ~
Mit knapp 570 Seiten kommt der Roman recht umfassend daher, was vor allem im Vergleich mit der tatsächlich geschilderten Handlung auffällt. Oftmals muss der Leser seine Geduld unter Beweis stellen, wenn es wieder einmal an ausufernde Passagen geht, in denen nicht wirklich viel passiert, sondern das Geschehen ruhig vor sich hin plätschert. Kleidungen und Örtlichkeiten werden ebenso ausführlich beschrieben wie belanglose Gespräche und gesellschaftliche Etikette. Hin und wieder ertappt man sich dabei, dass man geradezu auf das nächste bemerkenswerte Ereignis lauert. Andre Taylors Schilderungen geraten nie langweilig, so dass man etwa Gefahr liefe, das Buch vorzeitig aus der Hand zu legen - doch er bewegt sich unzweifelhaft hart an der Grenze und reizt die Ausdauer seiner Leser gehörig aus. "Der Schlaf der Toten" ist kein Thriller im modernen Sinne, der dem Leser atemlose Spannung von der ersten bis zur letzten Seite verspricht und der alle seitenlang mit neuen Enthüllungen aufwartet.
Stattdessen lullen einen die atmosphärischen Beschreibungen ein, ziehen einen mit hinein die Welt des Thomas Shield, die nach außen hin so malerisch wirkt und hinter deren Fassade düstere Abgründe lauern. Das Werk ist nicht nur ein Historienkrimi mit Anleihen an den Schauerroman, sondern auch ein Sittengemälde der viktorianischen Zeit. An der Person des mittellosen Thomas Shield, der sich auf dem Parkett der gehobenen Kreisen bewegt, wird die Zwiespältigkeit dieser Gesellschaft deutlich. Shield wird nie als ihresgleichen angesehen, obwohl er im Gegenzug über den gewöhnlichen Bediensteten steht.
Dem modernen Leser mögen die häufigen Verbeugungen und Ehrerbietungen, die Gedanken über Schicklichkeit und Contenance zunächst befremdlich vorkommen und doch versetzt man sich rasch hinein in diese Welt der großen Bälle, der Herrenhäuser, der Droschken und der knicksenden Dienstmädchen. Diese Welt, die sich par excellence als Folie für mysteriöse Vorkommnisse eignet, beispielsweise in einer verschneiten Winternacht, in der Thomas über den Landsitz der Carswells irrt und die verschwundenen Jungen sucht, während in der Ferne der Wälder eine tödliche Wilderer-Falle zuschnappt ...
Fazit:
Ein faszinierender Schauerkrimi aus dem viktorianischen England, der geschickt eine fiktive Handlung mit Todesfällen in der gehobenen Gesellschaft mit der Biographie des Schriftstellers Edgar Allan Poe verbindet. Die ausschmückende Sprache und die detailreichen Schilderungen von Nebensächlichkeiten sorgen für die eine oder andere Länge, doch insgesamt bietet sich ein spannender Roman voller Rätsel und lebensechten Charakteren, allen voran der Ich-Erzähler Thomas Shield, die ein unterhaltsames und fesselndes Lese-Erlebnis vermitteln.
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