4. Oktober 2012

Alle, alle lieben dich - Stewart O'Nan

Produktinfos:

Ausgabe: 2009
Seiten: 410
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Der Autor:

Stewart O'Nan, Jahrgang 1961, studierte zunächst Literaturwissenschaft und arbeitete als Flugzeugingenieur, ehe ihm 1993 mit seinem Roman "Engel im Schnee" der internationale Durchbruch gelang. Für das Buch erhielt er den William-Faulkner-Preis. Weitere Werke von ihm sind u.a. "Die Speed Queen", "Halloween", "Eine gute Ehefrau" und "Der Zirkusbrand".

Inhalt:

Die achtzehnjährige Kim genießt den letzten Sommer vor Collegeanfang. Sie geht mit ihrem Freund J.P aus, verabredet sich mit Freundinnen und jobbt nebenher in einer Tankstelle. Eines Tages trifft sie sich mit Freundin und Arbeitskollegin Nina am Fluss um zu schwimmen, fährt danach mit ihrem Chevy nach Hause, um sich umzuziehen und anschließend zur Arbeit. Doch dort kommt sie nie an. Nina glaubt zunächst, Kim habe sich freigenommen, ihre Familie wiederum wähnt sie auf der Arbeit. Erst am nächsten Morgen stellen ihre Eltern fest, dass Kim seit dem Nachmittag verschwunden ist.

Sofort alarmieren sie die Polizei. Befragungen bei Freunden und Verwandten bleiben ergebnislos, niemand hat Kim ab dem Nachmittag noch gesehen. Kims Eltern lassen Flugblätter drucken, geben Interviews und haben den Eindruck, dass die Ermittlungen viel zu langsam vonstatten gehen. Es gibt zwar keinen Hinweis, dass Kim freiwillig verschwunden ist, allerdings auch keine Indizien für eine Entführung.

Kims Umfeld ist überzeugt von einem Verbrechen. Bald wird das Auto gefunden, aber ohne besondere Spuren. Die nächsten Monate werden für Kims Familie zu einer Zerreißprobe. Wird sie irgendwo gefangen gehalten? Oder ist sie gar schon tot? Ist der Täter in ihrem Umfeld zu finden ...?

Die Verschwundene

Wenn ein Kind oder Teenager verschwindet mit Verdacht auf Entführung, dreht sich der Roman meist um die Suche nach dem Täter und die Ermittlungen. Stewart O'Nan konzentriert sich auf die Hinterbliebenen und bemüht sich dabei um eine größtmögliche Authentizität.

~ Detailliertes Psychogramm ~


Der Fokus des Romans liegt nicht auf den Thrillerelementen, sondern auf den Emotionen der Angehörigen. Da ist Kims Mutter, die sich mehr als alle anderen an ihr verlorenes Kind klammert und auch Monate später noch neue Aktionen startet in der Hoffnung, an neue Informationen zu gelangen. Da ist der Vater, der anfangs diese Vorhaben unterstützt, sich dann aber mehr und mehr von seiner Familie zurückzieht. Und da ist vor allem Kims jüngere Schwester Linda, die vielleicht die schwerste Zeit von allen durchmacht.

Linda steckt in einem schmerzhaften Zwiespalt: Einerseits hat sie jahrelang darunter gelitten, dass die so unscheinbar wirkte neben Kim und von ihrer großen Schwester oft nicht ernst genommen wurde. Ein kleiner Teil von ihr, der sich dafür schämt, ist sogar froh, dass Kim erst einmal verschwunden ist. Auf der anderen Seite vermisst sie natürlich ihre Schwester und hat Angst, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Ironischerweise steht sie auch nach Kims Verschwinden im Schatten der Schwester, denn gerade für ihre Mutter dreht sich das Leben fast nur noch darum, die ältere Tochter wiederzufinden. Da ist die scheue dünne Linda, die so zerbrechlich wirkt, die noch keinen Freund hatte und die nur Bestnoten nach Hause bringt manchmal beinah unsichtbar und das gerade in einer Phase, in der sie mehr denn je Unterstützung durch die Familie bräuchte. Im Brennpunkt der Handlung stehen die einzelnen Tragödien, die das Verschwinden eines Angehörigen bei den Hinterbliebenen auslöst.

~ Verzweifelte Suche ~

Spannung gibt es dennoch, denn die Frage, was mit Kim passiert ist, bleibt bis kurz vor Schluss offen. Es gibt mehrere Theorien, die im Laufe der Handlung von ihren Angehörigen und der Polizei erwogen werden. Über allem schwebt natürlich die Gefahr, dass sie entführt wurde und entweder irgendwo gefangen gehalten wird oder ermordet wurde. Für möglich gehalten wird allerdings auch, dass sie freiwillig untergetaucht ist, weil ihr der Druck vor Collegebeginn zu viel geworden sein könnte. Dafür spricht, dass sie genau wusste, dass sie mit ihrem Freund J.P. bald nicht mehr zusammen sein wird und dass ihre Schwester bei der letzten Unterhaltung das Gefühl einer Verabschiedung hatte.

Die Polizei durchleuchtet sorgfältig ihr Umfeld. Dabei stellt sich bald heraus, dass Kims Freunde hin und wieder mit Drogen experimentierten und dies auch bei Kim nicht ausgeschlossen werden kann. Für die Eltern ein Schock und es kommen Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit auf. Prekär ist auch Kims Affäre während der Beziehung, die Eifersucht als mögliches Motiv denkbar macht sowie umgekehrt das Anbändeln zwischen ihrem Freund und ihrer Freundin. Es erschwert die Ermittlungen, dass Kim immerhin erwachsen ist - denn da es keine Spuren für eine Entführung gibt, hält die Polizei einen freiwilligen Weggang für gut möglich. Für Kims Eltern bedeutet das eine zusätzliche Qual, denn ihrer Meinung nach unternehmen die Ermittler zu wenig, während sie selbst auf eigene Faust Flugblätter anfertigen und Befragungen in der Stadt durchführen.

~ Längen in der Handlung ~


Wer sich bei der Lektüre einen typischen Vermisstenthriller erhofft, wird sicher enttäuscht werden. Die Handlung umfasst viele Monate, in denen aber über längere Phasen hinweg kaum etwas Nennenswertes passiert. Es ist ein sehr ruhiges Buch, das zwar durch Atmosphäre und einfühlsame Charakterbeschreibungen überzeugt, aber zwischen auch immer wieder zu langatmig geschrieben ist. Dazu kommt, dass sich die Handlung zu sehr auf die Familie konzentriert und Kims Freunde dagegen ein wenig untergehen, obwohl auch sie eine wichtige Rolle spielen. Gerade die Brisanz, dass sich ihre Freundin Nina nach ihrem Verschwinden mit Kims Freund J.P. einlässt wird zu wenig ausgelotet. Das Ende ist inhaltlich durchaus gelungen, kommt aber im Vergleich zur vorherigen Handlung zu plötzlich. Vor allem klärt sich der Hintergrund zu Kims Verschwinden etwas zu beiläufig und schafft zwar Klarheit, wirkt aber im Gesamtkonzept wie zufällig ausgewählt. Das Vorhaben des Autors ist löblich, das Bemühen, ein ansprechendes Psychogramm zu schaffen deutlich erkennbar, aber abgesehen von Kims Familie und vor allem ihrer Schwester kommen die restlichen Charaktere etwas zu kurz.

Fazit:

Ein sehr ruhiger, melancholischer Roman, der sich vor allem mit den Hauptcharakteren auseinandersetzt. Zeitweilig ist auch für Spannung gesorgt, aber es ist definitiv kein klassischer Thriller. Störend sind die teilweise langatmigen Phasen, das etwas unmotivierte Ende und die zu kurz gekommenen Nebencharaktere. Ein anspruchsvolles Buch, das aber seine Längen hat.

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