27. Januar 2016

Stumme Schreie - Karin Fossum

Produktinfos:

Ausgabe: 2000
Seiten: 317
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Die Autorin:

Karin Fossum wurde 1954 in Norwegen geboren. 1995 erschien ihr Debütroman "Evas Auge", der erste Kriminalroman mit Kommissar Sejer. Weitere Bände sind u.a. "Fremde Blicke", "Dunkler Schlaf" und "Wer anders liebt". Bis 2016 erschienen elf Bände der Reihe; "Stumme Schreie" ist der fünfte.

Inhalt:

Gunder Jomann führt im norwegischen Elvestad ein unauffälliges, zurückgezogenes Leben. Mit seinen einundfünfzig Jahren ist er immer noch Junggeselle, er arbeitet fleißig in seinem Laden für Landmaschinen, besitzt ein kleines Haus mit Garten und seine Schwester Marie ist seine engste Vertraute. Gunder sehnt sich nach einer Frau, der er seine Liebe schenken kann, nach beschaulicher Zweisamkeit.

Da er kaum eine Chance sieht, in seiner Heimat eine Frau zu finden, hofft er, in Indien mehr Glück zu haben. Kurzerhand fliegt er nach Indien und lernt dort die Kellnerin Poona kennen. Gunder verliebt sich und auch Poona empfindet Zuneigung für den liebenswerten Mann, der sie auf Händen tragen will. Sie heiraten in Indien, und schon bald soll Poona Gunder nach Norwegen in ihre neue Heimat folgen. Überglücklich fiebert Gunder seiner Frau entgegen und bereit alles für ihr Eintreffen vor.

Doch alles kommt anders: Seine Schwester Marie erleidet einen schweren Autounfall und liegt im Koma. Gunder muss ins Krankenhaus und kann Poona nicht vom Flughafen abholen. Er beauftragt einen Bekannten damit, der Poona jedoch verpasst. Am Abend wird bei Elvestad die schrecklich entstellte Leiche einer jungen Frau gefunden, offenbar einer Ausländerin. Kommissar Sejer übernimmt den Fall. Wer ist die Fremde und wer hat sie so zugerichtet ...?

Bewertung:

Kommissar Sejers fünfter Fall ist, wie die meisten Werke Karin Fossums, ein eher untypischer Krimi. Spannung ist gegeben, doch der Fokus liegt eher auf Atmosphäre, psychologischem Gespür und Charakterzeichnung.

Gelungen ist vor allem die Darstellung von Gunder Jomann. Anfangs mag er noch in erster Linie Mitleid erregen und ist alles andere als ein typischer Sympathieträger - etwas verschroben und sein Vorhaben, sich eine Frau in Indien zu suchen, weckt erst einmal Misstrauen. Dann aber kristallisiert sich heraus, dass Gunder ein liebenswerter Mann ist, der zwar einige naive Ansichten hat, es mit seiner zukünftigen Ehefrau aber nur gut meint. Die rund fünfzehn Jahre jüngere Kellnerin Poona ist die erste und einzige Inderin, mit der er während seines Urlaubs in Kontakt kommt, und sie gewinnt sogleich sein Herz. Es ist rührend, Gunders Begeisterung zu lesen, das fast ungläubige Staunen darüber, dass Poona sich tatsächlich auf ihn einlässt und sein Bestreben, alles richtig zu machen. So ungewöhnlich die Beziehung zwischen den beiden auch beginnt, sie ist von beiden Seiten ehrlich gemeint. Poona sieht in dem älteren Gunder einen soliden, zuverlässigen und zärtlichen Mann; Gunder projiziert wiederum auf Poona all die liebevollen Gefühle, die er bislang nicht ausleben konnte. Was nach außen hin wie eine Zweckehe wirken könnte, ist das glückliche Zusammenfinden zweier Menschen, die aus verschiedenen Welten stammen und doch irgendwie füreinander bestimmt zu sein scheinen.

Karin Fossum lässt sich Zeit, Gunder vorzustellen und die unkonventionelle Eheanbahnung zu beschreiben. Trotz dieser gemächlichen Entwicklung wird der Leser auf gewisse Weise gefesselt, fühlt man sich doch stark ein in Gunder und freut sich über sein Glück. Über all dem liegt aber stets eine sich immer stärker intensivierende Melancholie, denn dem Leser ist natürlich klar, wer hier das Mordopfer werden wird. Das mindert aber nicht die Spannung - das Opfer mag früh feststehen, das Motiv und der Täter tun dies dagegen nicht. Ist es eine Zufallstat, die auch jemand anderes hätte treffen können, oder gibt es irgendetwas, das Opfer und Täter miteinander verbindet? So wie Kommissar Sejer rätselt auch der Leser.

Eine Zeugin scheint es zu geben, die im Vorbeifahren Opfer und Täter kurz vor der Tat gesehen haben will. Doch die sechzehnjährige Linda hat nur flüchtig zwei Gestalten in der Dunkelheit gesehen, die scheinbar scherzhaft Fangen spielten; ihre Beobachtungen sind zu vage für eine eindeutige Spur. Linda allerdings möchte gern eine größere Rolle bei den Ermittlungen einnehmen - und sie ist fasziniert von Sejers jungem Kollegen Skarre, der sie befragt hat. Sie möchte ihn wiedersehen und ist dafür gerne bereit, ihre Beobachtungen aufzubauschen. Linda nimmt zwar nur eine Nebenrolle ein, aber auch ihre Geschichte interessiert den Leser und er verfolgt gebannt, wie sich ihre Rolle im Verlauf entwickelt. Melancholie liegt nicht nur über Gunders, sondern diesmal auch über Konrad Sejers Leben. Sein geliebter Leonberger Kollberg ist mittlerweile ein gebrechlicher Hundesenior, dem eine große Operation bevorsteht. Es ist fraglich, wie gut er sie verkraften wird und wie sinnvoll es überhaupt noch ist, ihn am Leben zu halten - Sejer muss sich mit der schweren Frage auseinandersetzen, ob Einschläfern vielleicht allmählich der angemessene Weg wäre.

Wer einen klassischen Krimi erwartet, der kann hier leicht enttäuscht werden. Nicht nur, dass es lange dauert, bis es überhaupt zum Kriminalfall kommt - auch das Ende ist nicht hundertprozentig eindeutig. Es bleibt ein Hauch Restzweifel, ob Sejer zum korrekten Schluss gekommen ist, oder ob nicht doch etwa sein weniger überzeugter Kollege Skarre richtigliegt. Gerade dies macht den Roman umso authentischer, ist doch auch in der Realität nicht immer alles restlos geklärt. Freilich ist dieser Karin Fossum eigene Zug auch speziell und wird den einen oder anderen Leser etwas frustrieren.

Fazit:

Sehr berührender, melancholischer und atmosphärischer Krimi. Störend kann allenfalls sein, dass der Kriminalfall erst spät ins Rollen kommt und dass das Ende nicht absolut eindeutig ist.

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