25. März 2017

Insomnia - Jilliane Hoffman

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Wunderlich (Rowohlt)
Seiten: 480
* * * * *
Die Autorin:

Jilliane Hoffman, Jahrgang 1967, arbeitete vor ihrer Karriere als Autorin als stellvertretende Staatsanwältin in Florida. 2004 gelang ihr gleich mit ihrem Debütroman "Cupido" der internationale Durchbruch. Mit "Morpheus" und "Argus" folgten zwei Fortsetzungen. Weitere Thriller sind "Vater unser", "Samariter" und "Mädchenfänger".

Inhalt:


Florida wird von einem Serienmörder heimgesucht. Immer wieder verschwinden junge Mädchen und werden teilweise erst Monate später tot aufgefunden. Der Täter quält sie mit Werkzeugen, was ihm den Spitznamen "Hammermann" eingebracht hat. Seine Opfer sind zierliche, kleine Teenagermädchen mit dunklen, gescheitelten Haaren. Als die siebzehnjährige Mallory nach einer Party spurlos verschwindet, sind die Befürchtungen groß, dass auch sie eines seiner Opfer ist - Mallory passt genau in das Schema des Täters.

Zur großen Erleichterung taucht sie zwei Tage später wieder auf, völlig verdreckt und mit Stichwunden versehen. Sie erzählt, dass sie dem Hammermann entfliehen konnte, und wird von den Medien als Heldin gefeiert. Doch als der erfahrene Special Agent Bobby Dees sie in Ruhe befragt, erkennt er, dass Mallory gelogen hat. Als die Öffentlichkeit davon erfährt, wird das Mädchen von allen Seiten beschimpft.

Vier Jahre später: Mallory und ihre Familie sind aus Scham über die Ereignisse weggezogen, Mallory hat ihr Aussehen verändert, den Namen Callie angenommen und in New York studiert. Sie kehrt nun nach Florida zurück, um ihr Jurastudium zu beginnen. Sie hat immer noch Angst, dass jemand ihre Vergangenheit aufdecken und sie erneut den Anfeindungen preisgeben könnte. Mallory ahnt nicht, dass der immer noch nicht gefasste "Hammermann" sie nie aus den Augen verloren hat ...

Bewertung:


Nach "Mädchenfänger" ist "Insomnia" der zweite Thriller Jilliane Hoffmans mit dem Ermittler Bobby Dees. Wieder bekommt es Dees mit einem Serienmörder zu tun; der "Hammermann" steht "Picasso", der im "Mädchenfänger" sein Unwesen trieb, in Sachen Grausamkeit gewiss nicht nach. Als Serienmörder-Thriller ist "Insomnia" solide, aber nicht außergewöhnlich; interessant ist der Roman vor allem durch den Strang um Mallory Knight.

Mallory ist ein sehr gelungener Charakter mit Ecken und Kanten, trotz der großen und fatalen Lüge sympathisch. Der Leser ist nicht unbedingt sofort auf ihrer Seite, schließlich hat ihre falsche Aussage für enormen Wirbel gesorgt. Die Suche nach ihr kostete Hunderttausende von Steuergeldern, unzählige Menschen bangten um ihr Leben - nicht zuletzt natürlich ihre Familie -, die Ermittler arbeiteten mit Hochdruck. Tatsächlich hatte Mallory auf einer Party ihren Freund beim Seitensprung mit ihrer besten Freundin beobachtet, irrte vor Kummer ziellos umher und verletzte sich selbst. Durch ihr Untertauchen erhoffte sie sich Sorge und Reue bei Exfreund und Freundin, ohne zu bedenken, dass sie ein ganzes Land in Aufruhr versetzt.

Schon bald danach aber ist es nicht mehr schwierig, Mallory ins Herz zu schließen. Der Preis für ihre Lüge war sehr hoch: Ihre Familie hat ihr nie verziehen, dass sie ihretwegen die Stadt verlassen mussten und gleichfalls gebrandmarkt wurden; sie kann keine Freundschaften schließen, da sie immer Angst hat, dass jemand auf ihre Vergangenheit stößt. Sie lernt fleißig für ihr Studium und jobbt nebenbei als Kellnerin, um sich ihren Traum vom Anwaltsberuf erfüllen zu können. Aus dem deprimierten Teenagermädchen von damals ist eine ernste, intelligente junge Frau geworden, die immer noch ihren damaligen Fehler als Damoklesschert über sich schweben spürt. Es fällt leicht, sich in sie einzufühlen und sich trotz ihres damaligen Fehlers mit ihr zu solidarisieren.

Callie, wie Mallory sich jetzt nennt, leidet aber nicht nur unter der ständigen Sorge um ihre neuen Identität, sondern fühlt sich kurz nach ihrer Ankunft in Tallahassee gestalkt. Irgendjemand betritt offenbar heimlich ihre Wohnung, stellt Sachen um und stiehlt ihre Unterwäsche, ihr Auto wird beschädigt. Sie hat ihren Exkommilitonen Brice im Verdacht, mit dem sie in New York eine kurze Liebelei hatte und der plötzlich bei ihr auftaucht. Und dann passieren noch sehr viel schlimmere Dinge, die Callie endlich dazu bringen, zur Polizei zu gehen - doch als ihre Vergangenheit auf den Tisch kommt, ist sie wie befürchtet mit einem Schlag unglaubwürdig. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und das erfährt Callia alias Mallory sehr schmerzhaft am eigenen Leib.

Sowohl Mallorys/Callies Schicksal als auch die Suche nach dem "Hammermann" sorgen für spannende Unterhaltung. Ein paar grausame Schilderungen der Folter und Morde gibt es auch, aber nicht in übertriebenem Maße. Das Werk ist zwar keine direkte Fortsetzung von "Mädchenfänger", allerdings denkt Bobby Dees an mehreren Stellen an jenem Fall zurück und lässt wichtige Szenen Revue passieren - wer also "Mädchenfänger" noch nicht kennt und lesen möchte, sollte dies besser vor der Lektüre von "Insomnia" erledigen, um nicht schon die Auflösung zu erfahren.

Es gibt sicher interessantere Serienmörder als den "Hammermann". Ein paar Kapitel werden aus seiner Sicht erzählt und liefern Infos zu seiner Vorgeschichte. Er geht sehr intelligent vor, bleibt aber dennoch nicht nachhaltig im Gedächtnis als Romanfigur, das gilt eher für Mallory. Ein kleiner inhaltlicher Fehler findet sich im Gedankengang des Täters: Er spricht von "Frankenstein" und meint damit das erschaffene Monster, allerdings ist Frankenstein der Name des Schöpfers.

Fazit:


"Insomnia" von Jilliane Hoffmann ist der zweite Thriller mit Special Agent Bobby Dees und beschert sehr solide Unterhaltung. Es gibt zwar charismatischere Serienmörder, aber wer dieses Genre und die Thematik mag, dem sei das Buch auf alle Fälle empfohlen.

22. März 2017

An jenem dunklen Tag - Lucy Atkins

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Bastei Lübbe
Seiten: 413
* * * * *
Die Autorin:

Lucy Atkins (Großbritannien) ist eine erfahrene Journalistin, die für Zeitungen wie die Times, den Guardian und den Telegraph sowie für Zeitschriften wie Psychologies oder Grazia schreibt. 2014 erschien ihr erster Roman "Das Flüstern des Meeres".

Inhalt:


Das Leben der neununddreißigjährigen Tess ändert sich von Grund auf, als sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann Greg und ihrem neunjährigen Sohn Joe von London in einen Bostoner Vorort zieht. Greg ist ein gefragter Herzchirurg, der in Boston eine hohe Position antritt und der nur wenig Zeit zuhause verbringt.

Tess ist die meiste Zeit allein mit Joe in dem riesigen neuen Haus, zudem ist sie schwanger. Es fällt ihr schwer, neue Kontakte in Boston zu knüpfen; Joe hat Heimweh und wird in der Schule gehänselt. Obendrein verläuft die Schwangerschaft schwieriger als die erste. Dazu kommt, dass ein zweites Kind nie geplant war; Greg wollte ausdrücklich kein eigenes Kind.

Während Tess versucht, das Beste aus der neuen Situation zu machen, stößt sie immer wieder auf seltsame anonyme Nachrichten, die offenbar an Greg gerichtet sind. Der Schreiber spricht davon, dass er ihn beobachtet und sein Gesicht in seinen Alpträumen sieht. Greg tut die Briefe als harmlose Spinnerei ab. Tess hingegen fühlt sich zunehmend verfolgt, hört Schritte im Haus. Wer ist die Frau, die sie immer wieder aus der Ferne anstarrt und dann davonrennt? Und was verbirgt Greg möglicherweise in seiner Vergangenheit ...?

Bewertung:

Als Psychothriller bezeichnet der Verlag Lucy Atkins' "An jenem dunklen Tag", und unterhaltsam und über weite Streckend spannend ist der Roman gewiss. Ein Psychothriller ist er aber doch weniger als eher ein Familiendrama.

Im Mittelpunkt steht Tess. eine sympathische Frau, deren Leben auf den Kopf gestellt wird und mit der man mitfiebert. Allein schon der Umzug von London in die USA bedeutet eine enorme Umstellung für sie, sie lässt sowohl Freunde als auch ihren geliebten Job als Fotografin zurück. Das Einleben im Bostoner Vorort fällt ihr schwer, sie findet kaum Anschluss an neue Bekanntschaften; zu allem Überfluss begegnet ihr ihre forsche und attraktive Nachbarin Helena distanziert bis feindselig. Allerdings scheint sich Greg dafür umso besser mit Helena zu verstehen, die genau wie er im medizinischen Bereich arbeitet, genau wie er morgens joggen geht und die ihn offenbar sogar noch aus gemeinsamen Studienzeiten kennt.

Tess ist einsam und eifersüchtig, weiß aber nicht, inwieweit sie sich vielleicht in falsche Verdächtigungen hineinsteigert. Für den Leser liegt der Reiz darin, dass auch er zunächst nicht sicher sein kann, ob Tess - geplagt durch eine schwierige Schwangerschaft - überreagiert und die Dinge bedrohlicher und schlimmer sieht, als sie sind. Ebenso ist zunächst unklar, was sich hinter den geheimnisvollen Botschaften verbirgt, die Tess im Haus findet. Greg ist vollauf mit seinem höchst anspruchsvollen Job beschäftigt und zeigt wenig Verständnis für die Sorgen seiner Frau. Und dass Joe unter starkem Heimweh leidet, macht es auch nicht leichter. Nahezu unweigerlich verbündet sich der Leser mit Tess und verfolgt gebannt die Entwicklungen. Die Handlung wird straff erzählt, erlaubt sich keine Abschweifungen und macht es einem leicht, das Buch binnen kurzer Zeit durchzulesen.

Es ist jedoch auch ein bisschen schwierig nachzuvollziehen, dass Tess so bereitwillig die große Lebensumstellung auf sich genommen hat. Sie kennt Greg zu diesem Zeitpunkt erst ein paar Monate, sie liebt ihr Leben in London, arbeitet dort mit Leidenschaft als Fotografin, hat dort ihren Freundeskreis. Gregs positive Seiten, die Tess so verzaubert haben, werden nur knapp und zusammenfassend erwähnt, aber man erlebt kaum live, dass er sich so verhält. Für den Leser bleiben Gregs Attraktivität und Charme folglich eher außen vor, man muss hinnehmen, dass er für Tess ein Traummann ist, kann das aber nicht unbedingt selbst nachvollziehen. Die Handlung setzt erst mit dem Umzug nach Boston ein; der Entscheidungsprozess ist also kein großes Thema, sondern erscheint nur als kurzer Rückblick.

Nach der zuvor sorgsam aufgebauten Spannung ist das Ende dann zudem recht vorhersehbar und zahm. Kein Schock, keine wirkliche Überraschung, kein Knalleffekt, sondern eher eine betuliche Auflösung steht am Schluss. Schon zuvor zeichnet sich ab, dass die Handlung mehr in Richtung familiäres Drama statt Psychothriller abläuft, obwohl anfangs alles nach Letzterem aussieht: Stalking, bedrohliche Botschaften, ein geheimnisvoller Ehemann, eine feindselige Nachbarin, eine verunsicherte und möglicherweise in Gefahr schwebende Protagonistin. Doch letztlich ist alles etwas weniger brisant, als der Thrillerfan erhofft. Das macht den Roman gewiss nicht schlecht, kann aber bei anderen Erwartungen etwas enttäuschen.

Fazit:


Lucy Atkins' "An jenem dunklen Ort" ist mehr ein Familiendrama als ein Psychothriller, nichtsdestotrotz aber unterhaltsam. Man sollte keine allzu überraschende Wendungen erwarten und erst recht keine Schockmomente, dann erhält man eine kurzweilige Lektüre.

21. März 2017

Die Gerechte - Peter Swanson

Produktinfos:

Ausgabe: 2017 bei Blanvalet
Seiten: 413
* * * * *
Der Autor:


Peter Swanson aus den USA studierte kreatives Schreiben, Pädagogik und Literatur und veröffentlichte zunächst Kurzgeschichten und Gedichte. Mit den Thrillern "Die Unbekannte" und "Die Gerechte" gelangen ihm schließlich zwei internationale Bestseller.

Inhalt:

In einer Londoner Flughafenbar lernt Ted Severson die attraktive und geheimnisvolle Lily kennen. Sie kommen ins Gespräch und unter reichlich Alkoholeinfluss gesteht Ted seiner neuen Bekanntschaft, dass er seine Frau Miranda bei einem Seitensprung beobachtet hat. Eine Scheidung käme den wohlhabenden Ted sehr teuer, sein Frust ist enorm.

Die Fremde fragt ihn, ob er seine Frau ermorden lassen will - und bietet ihm ihre Hilfe dabei an. Ted hält dies erst für einen Scherz, aber Lily scheint es ernst zu meinen. Sie treffen eine Verabredung, bis dahin soll Ted sich überlegen, ob er wirklich den Tod von seiner Frau und deren Liebhaber möchte. Während Miranda ahnungslos ist, bestätigt sich Teds Wunsch in den nächsten Tagen nur noch.

Lily und er treffen sich erneut, die Pläne werden konkreter. Zugleich fühlt sich Ted immer mehr zu der schönen Lily hingezogen. Dennoch bleiben die Fragen: Soll er Miranda und ihren Lover töten lassen? Wird alles funktionieren? Und warum macht ihm Lily dieses Angebot ...?

Bewertung:


Statt "Zwei Fremde im Zug" wie bei Patricia Highsmith sind es hier zwei Fremde im Flugzeug, die aufeinandertreffen und ein Mordkomplott entwerfen. Aus dieser zunächst bizarr anmutenden Situation ergibt sich rasch ein fesselnder Thriller, der durchweg gute Unterhaltung bietet.

Die Handlung teilt sich in zwei Stränge auf. Ein Strang konzentriert sich auf Teds Sicht und erzählt die Haupthandlung, in der sich Ted und Lily kennenlernen und beschließen, Miranda und ihren Liebhaber Brad zu ermorden. Dazwischen gibt es immer wieder Rückblenden mit Lily als Ich-Erzählerin, in der man mehr über die geheimnisvolle Fremde erfährt, die ein so seltsames Angebot macht. Lilys Vergangenheit macht den kleineren Teil des Romans aus, ist aber mindestens so reizvoll wie die Gegenwartshandlung. Lily Kintner ist ein sehr komplexer und faszinierender Charakter. Anfangs ist sie vor allem undurchschaubar, aber durch Rückblicke in ihre Kindheit, Jugend und Collegezeit erhält man viele Informationen, die ein klares Bild formen; insbesondere ergibt sich daraus, dass sie zu einem Mord durchaus fähig ist. Lily ist eine jener Mörderfiguren, die trotz ihrer Taten die Sympathie des Lesers für sich gewinnen können, da ihre Motive zumindest teilweise nachempfunden werden können.

Lily macht einen Teil des Reizes aus, der andere ist die Spannung dank der unvorhersehbaren Handlung. Man fiebert mit, wie sich die Dinge entwickeln, wie sich die Charaktere verhalten; zudem ergeben sich im späteren Verlauf ein paar gelungene Wendungen. Es ist nicht alles so, wie es zunächst scheint, der Leser erlebt ein paar Überraschungen. Warum macht Lily einem Fremden dieses Angebot, geht Ted tatsächlich darauf ein, wer stirbt alles und wer kommt gegebenenfalls mit einem Mord davon - das sind ein paar der entscheidenden Fragen, die man unbedingt beantwortet bekommen möchte. Insgesamt ergibt sich dadurch ein raffiniert eingefädeltes Handlungsgeschehen, und wer flott geschrieben Thriller mag, wird hier vierhundert Seiten lang gut unterhalten.

Im Vergleich zur interessanten Lily sind die anderen Charaktere freilich blasser geraten. Ted ist grundsätzlich nicht unsympathisch, allerdings kann man sich nicht unbedingt mit seinem Gedanken identifizieren, die Ehefrau ermorden zu lassen. Davon abgesehen sind seine Überlegungen aber plausibel für den Leser, sowohl was seine Unsicherheit bezüglich der Mordpläne angeht als auch seine Faszination für Lily. Das Ende präsentiert nochmals eine bemerkenswerte Wendung, die fraglos sehr effektvoll ist, aber auch ein bisschen übers Ziel hinausschießt. Es passt zum Roman, dass zum Schluss noch mal etwas sehr Bemerkenswertes geschieht. Jedoch wirkt dieser Abschluss ein bisschen zu konstruiert; die zeitliche Koinzidenz ist nicht sehr glaubwürdig. Da das Buch ansonsten aber so gelungen ist, fällt das kaum ins Gewicht.

Fazit:

Es gibt nur sehr kleine Mankos in Peter Swansons kurzweiligem Thriller "Die Gerechte". Das Buch überzeugt durch eine interessante Grundidee, eine durchweg spannende Handlung und eine außergewöhnliche Protagonistin.

6. März 2017

Stiefkind - S. K. Tremayne

Produktinfos:

Ausgabe: 2016
Seiten: 385
* * * * *
Der Autor:

S. K. Tremayne ist das Pseudonym eines englischen Bestsellerautors und Reisejournalisten.

Inhalt:

Die aus armen Londoner Verhältnissen stammende Rachel scheint das große Los gezogen zu haben: Sie heiratet den attraktiven und wohlhabenden Anwalt David Kerthen und zieht auf sein eindrucksvolles Anwesen in Cornwall. Auch mit seinem achtjährigen Sohn Jamie versteht sie sich gut. Allerdings liegt auch ein Schatten auf dem neuen Glück: Davids erste Frau Nina starb vor eineinhalb Jahren bei einem Unfall.

David arbeitet unter der Woche in London und kommt nur an den Wochenenden raus nach Cornwall; Rachel verbringt daher viel Zeit allein mit Jamie. Und nach anfänglichem guten Start mit ihrem Stiefsohn verhält sich Jamie immer seltsamer. Immer wieder spricht er von seiner verstorbenen Mutter, meint sie zu sehen und zu hören. Schließlich prophezeit er Rachel, dass sie an Weihnachten ebenfalls tot sei.

Rachel schiebt Jamies Äußerungen zunächst auf sein Trauma. Doch nach und nach fürchtet sie immer mehr, dass er die Wahrheit sagt. Außerdem fragt sie sich, ob vielleicht mehr hinter Ninas angeblichem Unfall in der Mine steckt. Oder lebt sie vielleicht noch - ihre Leiche wurde schließlich nie gefunden! Rachel verliert sich zunehmend in Nachforschungen und zieht damit Davids Misstrauen auf sich ...

Bewertung:


Nach dem sehr gelungenen Bestseller "Eisige Schwestern" legt S. K. Tremayne hier mit "Stiefkind" einen Psychothriller im ganz ähnlichen Stil zu. Es liegt ein Hauch von Daphne du Mauriers "Rebecca" über der Anfangshandlung: Nina ist tot, doch Rachel spürt noch ihre Präsenz auf dem Anwesen und ist von Davids schöner und eleganter verstorbenen Frau beeindruckt. Nina hat das Haus geschmackvoll eingerichtet, in einer Klatschzeitschrift entdeckt Rachel einen Bericht über das glückliche Paar und die unwillkürlichen Selbstvergleiche mit ihrer Vorgängerin verunsichern sie.

Aus dieser Ausgangslage heraus entwickeln sich einige weitere Fragen, die den Roman zu einem spannenden Verwirrspiel für den Leser machen: So steht im Raum, was es mit Ninas Tod tatsächlich auf sich hat, ob sie wirklich tot ist oder vielleicht doch noch lebt, ob Jamie tatsächlich Zukunftvorhersagen machen kann und Rachel damit in Lebensgefahr schwebt und schließlich auch, welche Rolle David bei diesen Dingen spielt. Es ist lange Zeit nicht zu durchschauen, was hier Einbildung und was Wirklichkeit ist, welche Art von Bedrohung über Rachel liegt und ob es für alle Vorgänge rationale Erklärungen gibt. Für Rachel kommt erschwerend hinzu, dass sie keine richtige Vertrauensperson um sich hat; Freundinnen hat sie nicht, auf dem einsam gelegenen Anwesen leisten ihr außer David und Jamie nur Davids Mutter Juliet und das Hausmädchen Cassie Gesellschaft. Juliet allerdings leidet unter beginnender Demenz, und die junge Thailänderin Cassie ist zwar freundlich, hält aber bewusst Abstand zwischen Dienstbote und Hausherrin ein.

Das Setting fungiert als hervorragende Ergänzung zu Rachels mehr und mehr beklemmender Stimmung: Um das riesige Anwesen Carnhallow liegt Wald, die raue Landschaft ist geprägt durch den Bergbau, der Davids Familie ihr Vermögen bescherte, das Moor und das tobende Meer bilden den Rahmen. Immer wieder kommt die Morvellan Mine ins Spiel, in der Nina unter mysteriösen Umständen verunglückte. Rachel wird immer unsicherer und ängstlicher, fühlt sich einerseits verfolgt und weiß andererseits nicht, ob sie ihren Wahrnehmungen trauen darf. So entstehen einige gruselige Momente, während die Atmosphäre insgesamt immer unheilvoller wird.

Das dramatische Finale erinnert ein wenig an selbiges in "Eisige Schwestern": Dort war die Mutter während eines Sturms gemeinsam mit ihrer Tochter auf einer Insel von der Außenwelt abgeschnitten; hier ist Rachel zusammen mit Jamie auf dem eingeschneiten Anwesen. Die Auflösung beantwortet alle offenen Fragen, hundertprozentig zufriedenstellen kann sie nicht unbedingt. Die Erklärung wirkt ein bisschen konstruiert, sie ist ein wenig enttäuschend gegenüber den hohen Erwartungen, die sich zuvor aufgebaut haben. Eine weitere kleine Schwäche liegt in Davids Verhalten, das sich etwas zu abrupt gegen Rachel wendet. Hier wäre wünschenswert gewesen, dass sich Davids Misstrauen gegenüber seiner neuen Frau etwas subtiler entwickelt, statt dass er relativ plötzlich eine Bedrohung für seinen Sohn in ihr sieht.

Fazit:


"Stiefkind" von S. K. Tremayne reicht nicht ganz an die Klasse von "Eisige Schwestern" heran, bietet aber dennoch für Thrillerfreunde atmosphärisch dichte und spannende Unterhaltung.

Eisige Schwestern - S. K. Tremayne

Produktinfos:

Ausgabe: 2015
Seiten: 400
* * * * *
Der Autor:

S. K. Tremayne ist das Pseudonym eines englischen Bestsellerautors und Reisejournalisten.

Inhalt:


Die eineiigen Zwillinge Lydia und Kirstie sind unzertrennlich, bis Lydia mit sechs Jahren bei einem häuslichen Unfall ums Leben kommt. Auch ein Jahr später kann die Familie Moorcraft mit dem Verlust noch nicht umgehen. Vater Angus hat durch Alkoholprobleme seinen Job verloren, das Geld wird knapp. Sarah und Angus beschließen, gemeinsam mit Tochter Kirstie ein neues Leben auf der kleinen schottischen Privatinsel zu beginnen, die Angus' Familie gehört.

Doch auch die Abgeschiedenheit inmitten der reizvollen Natur bringt zunächst keine Besserung. Kirstie behauptet, in Wirklichkeit Lydia zu sein, ihre Eltern hätten die Zwillinge bei dem Unfall verwechselt. Sarah glaubt zunächst, dass Kirstie auf diese Weise den Verlust ihrer geliebten Schwester verarbeitet. Aber dann geht es so weit, dass sich ihre Tochter wie die ruhige, sanfte Lydia verhält statt wie die temperamentvollere Kirstie, und sie reagiert nur noch auf den Namen Lydia.

Sarah bekommt zunehmend Zweifel, ob wirklich Lydia starb oder ob ihr und Angus ein schrecklicher Fehler bei der Identifizierung unterlief. Kirstie findet in der neuen Schule keinen Anschluss, die Mitschüler fürchten sich vor ihr, da sie mit ihrer toten Schwester spricht. Während Angus aufgrund seiner neuen Arbeit oft mehrere Tage auf dem Festland verbringt, versucht Sarah auf der Insel herauszufinden, wer ihre Tochter ist und was am Unfalltag wirklich geschah ...

Bewertung:


Eineiige Zwillinge üben auf viele Menschen eine besondere Faszination aus, sehen sie doch oft nicht nur auf den ersten Blick identisch aus, sie verbindet auch häufig ein für Außenstehende geradezu magisch erscheinendes Band, wenn sie die Sätze des anderen ergänzen, die gleichen Gedanken verfolgen, die gleiche Gestik und Mimik zeigen und sich ohne Worte verständigen. Zwillingsforschung ist ein komplexes Feld, und natürlich sind Zwillinge dementsprechend auch ein gern gewähltes Sujet in Literatur und Film.

S. K. Tremayne verpackt die Frage danach, welcher Zwilling tatsächlich gestorben ist und wie die Mutter dies herausfindet, in einen fesselnden und wendungsreichen Psychothriller.
Kirstie und Lydia sind selbst für eineiige Zwillinge außergewöhnlich eng verbunden gewesen. Man erfährt, dass sie häufig in einer für andere unverständlichen Phantasiesprache miteinander redeten, die gleichen Träume hatten und andere verwirrten, indem sie die Identitäten tauschten. In der Regel gibt es bei Zwillingen mit der Zeit doch einige optische Unterschiede wie verschiedene Haarwirbel, Muttermale, Leberflecken, Narben oder Pigmentstörungen, sodass das nähere Umfeld sie gut unterscheiden kann. Im Fall von Kirstie und Lydia gab es so etwas nicht, es waren wenn die unterschiedlichen Charaktere, die dafür sorgten, dass man die Schwestern auseinanderhalten konnte.

So sicher Sarah monatelang auch war, dass Lydia starb und Kirstie überlebte - nach Kirsties vehementer Behauptung, Lydia zu sein, kann sie nicht abstreiten, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass tatsächlich Lydia beerdigt wurde. Ihre verbliebene Tochter will nicht nur mit Lydia angeredet werden, sie hat auch in letzter Zeit vermehrt mit Lydias statt mit Kirsties besten Freundinnen gespielt. Sie hat deutliche Fortschritte im Lesen gemacht und Rückschritte in der Mathematik - ganz wie es Lydias Talenten entsprach. Und zu guter Letzt verhält sich auch Familienhund Beany ihr gegenüber eher so, wie er sich gegenüber Lydia verhielt - kuschelig und sanft, während er mit Kirstie eher herumtobte. Sarah muss mit dem schrecklichen Verdacht leben, ein Jahr lang ihre Töchter verwechselt zu haben. Möglich ist aber auch, dass Kirstie aus Schuld- und Verlustgefühlen heraus die Rolle der toten Schwester übernimmt, wie ein Kinderpsychiater erläutert.

Für den Leser ist es äußerst spannend und nicht vorherzusehen, ob der überlebende Zwilling nun Kirstie oder Lydia ist - und falls es doch Kirstie ist, ob sie sich bewusst als Lydia ausgibt oder ob dies ihrer Verwirrung zuzuschreiben ist. Des Weiteren kristallisiert sich zunehmend heraus, dass der Unfall noch eine größere Rolle spielen wird. Anfangs erfährt man nur, dass die Zwillinge oben im Haus spielten und einer dabei herunterstürzte; später wird angedeutet, dass es mit dem Unfall eine besondere Bewandtnis auf sich haben könnte, wenn es denn überhaupt einer war.

Die intensiv gestaltete Atmosphäre tut ihr Übriges dazu, um den Thriller einen gewissen Grusel zu verleihen. Ein großer Teil der Handlung spielt auf der kleinen Insel, die von der rauen Natur ringsum beherrscht wird, von den Gezeiten, dem Watt, in dem man steckenbleiben kann, dem reißenden Meer und den heftigen Stürmen. In Sarahs und Angus renovierungsbedürftigem Haus gibt es keinen Handy- oder Internetempfang, die Telefonverbindung ist unzuverlässig, das Festland muss mühsam mit einem motorisierten Schlauchboot angesteuert werden. Es ist keine heile Welt, die die Moorcrafts auf der Insel erwartet, doch aus finanziellen Gründen gibt es keine Alternative. Der Schauplatz ist ideal geeignet, um die unheilvolle Stimmung aus Misstrauen und Verunsicherung, die in dieser Familie herrscht, noch zu intensivieren. Sarah und Angus haben offenbar Geheimnisse voreinander, jeder nimmt dem anderen gewisse Dinge übel. Zwar reißen sich beide zusammen, doch das Brodeln unter der Oberfläche ist offenkundig.

Während das Buch in Sachen Spannung vollauf überzeugt und zum beständigen Weiterlesen ermuntert, hapert es ein wenig bei den Charakteren. Angus ist überwiegend unsympathisch gezeichnet, er wirkt häufig unterschwellig aggressiv, und schließlich kommt der Verdacht auf, er könnte mit dem Tod des Zwillings gar etwas zu tun haben. Mit Sarah, die in den meisten Kapiteln als Ich-Erzählerin auftritt (in anderen Kapiteln spricht ein personaler Erzähler, der Angus fokussiert), kann man mehr mitfühlen. Allerdings zeigt sie phasenweise zu wenig Verständnis für ihre Tochter, die Schule wird beispielsweise viel zu wenig über das erlittene Trauma informiert, das Mädchen erhält zu wenig psychologische Unterstützung, und das wiederum verärgert beim Lesen und nimmt einen gegen Sarah ein.

Ein weiterer kleiner Minuspunkt ist das nicht ganz perfekte Ende. Eine wichtige Enthüllung wird recht plakativ und plötzlich eingebracht, ein paar subtile Vorausdeutungen dazu wären schön gewesen, so wirkt es eher wie eine spontane Eingebung des Autors. Des Weiteren erhält die Geschichte am Schluss einen kleinen Mystery-Einschlag, der vorher nicht absehbar war, und es bleibt ein Interpretationsspielraum, der nicht zwingend ein Minuspunkt sein muss, aber sicher nicht jedem gefällt.

Fazit:


Ein sehr spannender und atmosphärischer Psychothriller, der trotz kleiner Schwächen unterm Strich ausgesprochen gut unterhält.

3. März 2017

Nachts in meinem Haus - Sabine Thiesler

Produktinfos:

Ausgabe: 2017 bei Heyne
Seiten: 512
* * * * *
Die Autorin:

Sabine Thiesler studierte Germanistik und Theaterwisenschaften und arbeitete als Bühnenschauspielerin, ehe sie Schriftstellerin wurde. Neben "Der Kindersammler" verfasste sie auch einige Theaterstücke und schrieb Drehbücher für Fernsehserien wie "Tatort" und "Polizeiruf 110". Andere Werke sind "Hexenkind", "Die Totengräberin" und "Der Menschenräuber".

Inhalt:

Der Künstler Tom Simon führt ein glückliches Leben: Er ist wohlhabend, hat seine Leidenschaft zum Beruf gemacht, betreibt eine Hamburger Galerie und ist verheiratet mit der attraktiven und erfolgreichen Regisseurin Charlotte. Gemeinsam bewohnen sie ein reizvolles, abgelegenes Anwesen im Hamburger Norden.

Doch in einer Unwetternacht ändert sich Toms Leben von Grund auf. Er trifft eine fatale Entscheidung und steht plötzlich vor den Trümmern seines Lebens. Sein bester Freund, der gewiefte Anwalt René, verhilft ihm zur Flucht; Tom soll bis auf Weiteres in Renés Haus in einem toskanischen Bergdorf unterkommen. Unterdessen will René für Tom die Wogen glätten.

Tom ahnt jedoch nicht, dass René sehr bald seine Meinung ändert. Während sich Tom in der Toskana versteckt, fädelt sein Freund einen perfiden Plan gegen ihn ein. Erst ganz allmählich kommt Tom der Verdacht, dass er niemandem mehr trauen kann ...

Bewertung:

Mit "Nachts in meinem Haus" legt Sabine Thiesler den inzwischen neunten Toskana-Krimi vor. Wie immer verbindet sie darin Handlungsstränge in Deutschland und Italien miteinander, und wie immer hat auch Donato Neri, vom Pech verfolgter Carabiniere aus Ambra, eine kleine Rolle darin.

Die Ausgangssituation ist reizvoll: Tom Simon führt ein scheinbar perfektes Leben, bis er in einer verhängnisvollen Nacht eine Fehlentscheidung trifft. Da er fürchtet, dass die Polizei ihm seine Version nicht glauben würde, flüchtet er nach Italien. Anfangs ist es recht spannend, diese Flucht mitzuverfolgen. Das gilt ebenso für die Frage, wie sich parallel die Dinge in Deutschland entwickeln, das heißt, welche Schlüsse die Ermittler ziehen und wie sich Toms Freund René verhält. Zu diesem frühen Zeitpunkt fällt es noch recht leicht, mit Tom zu bangen, da er zwar einen fatalen Fehler begangen hat, dieses katastrophale Resultat aber absolut nicht beabsichtigte.

Und während im letzten Roman "Und draußen stirbt ein Vogel" der ambrische Ermittler Neri nur eine sehr kleine Rolle innehatte, bekommt er hier wieder deutlich mehr Raum. Neri hat nicht nur direkten Kontakt mit Tom Simon, sondern auch sein Privatleben erfährt ein paar einschneidende Veränderungen. Wer also Sabine Thieslers Werke gerade auch wegen dieser Nebenfigur verfolgt, der wird hier zumindest in dieser Hinsicht auf seine Kosten kommen. Gelungen wie üblich sind die Beschreibungen der toskanischen Landschaft und Lebensart; Sabine Thiesler versteht es, den Charme des Dorflebens in die Krimihandlung zu integrieren.

Aber von diesen Punkten abgesehen, kann der Roman nicht wirklich überzeugen. Zum einen ist Tom im weiteren Handlungsverlauf kein besonders sympathischer Protagonist. Anfangs ist er noch geschockt über seine Tat, schon bald aber sorgt er sich vor allem um seinen unbequemen Lebensstil. Er trauert seinem Luxus hinterher und versinkt in Selbstmitleid; von Reue über sein Verhalten ist nicht mehr viel zu spüren. Er ist daher niemand, mit dem man als Leser besonders fühlen oder leiden könnte.

Weiterhin stört Toms teils extreme Naivität. Als ihn beispielsweise René telefonisch darüber informiert, dass die Polizei nach ihm sucht, ist er sehr verwundert, obwohl ihm klar sein sollte, dass ihn die Ermittler, egal ob als Verdächtiger oder als möglicher Zeuge, unbedingt sprechen wollen. Tom denkt auch nicht daran, dass sein vorgetäuschtes Alibi mit einer angeblichen Nachricht aus Lissabon auf Renés Anrufbeantworter für die Polizei zu durchschauen sein dürfte - schließlich sollte sowohl nachweisbar sein, dass der Anruf gar nicht aus Lissabon kam, als auch, dass er deutlich nach dem Tatzeitpunkt stattfand, auch wenn René bei seinem Anrufbeantworter das Datum verändern möchte. Letztlich denkt Tom auch nicht an mögliche Zeugen, die ihn kurz vor dem fraglichen Zeitpunkt noch in Hamburg gesehen haben könnten, wenn er sich angeblich schon längst im Ausland befunden haben will. Etwas fragwürdig ist außerdem, wie schnell die Polizei alle Taxifahrer zu ihren Fahrgästen in jener Nacht überprüft hat: Über tausend Taxis in Hamburg sind keiner Zentrale angeschlossen, die Fahrer also schwer aufzufinden, was hier aber offenbar keine Rolle spielt.

Ein weiterer Schwachpunkt liegt in der Figur René. Auf dem Papier klingt es interessant, dass der beste Freund plötzlich zum größten Feind wird und geschickt gegen einen intrigiert. Und der Grund, warum René sich gegen Tom stellt, ist auch nachvollziehbar. Aber wie skrupellos René plötzlich im wahrsten Wortsinn über Leichen geht, um seinen Plan auszuführen, ist nicht sehr glaubhaft. Auch der sehr abrupte Umschwung eines weiteren Charakters reiht sich darin ein.

Fazit:

"Nachts in meinem Haus" von Sabine Thiesler ist trotz recht guter Ansätze ein maximal durchschnittlicher Thriller. Er liest sich zwar schnell weg, aber ein paar Logikschwächen schmälern den Lesegenuss deutlich.

2. März 2017

Die Falle - Melanie Raabe

Produktinfos:

Ausgabe: 2015 bei btb
Seiten: 352
* * * * *
Die Autorin:

Melanie Raabe, geboren 1981 in Jena, studierte zunächst Medienwissenschaft und Literatur und arbeitete als Journalistin. 2015 erschien ihr erster Roman "Die Falle", 2016 folgte mit "Die Wahrheit" der zweite Thriller.

Inhalt:


Linda Conrads ist eine berühmte Autorin, die regelmäßig Bestseller veröffentlicht. Doch über ihr Privatleben ist kaum etwas bekannt, da sie sich nahezu völlig aus der Öffentlichkeit heraushält. Seit elf Jahren hat sie ihre Villa am Starnberger See nicht mehr verlassen, über die Hintergründe weiß ihr Publikum nichts.

Nur Lindas Familie weiß, dass damals ihre jüngere Schwester Anna ermordet wurde. Linda fand die Tote und sah für einen Moment auch den flüchtigen Mörder. Die Ermittlungen liefen jedoch ins Leere, auch das Phantombild ergab nie einen Hinweis auf einen Verdächtigen. Die traumatisierte Linda hat sich daraufhin völlig zurückgezogen, das Gesicht des Täters verfolgt sie bis heute.

Jetzt aber sieht Linda plötzlich den Mörder ihrer Schwestern im Fernsehen. Ihre Nachforschungen ergeben, dass es sich dabei um den erfolgreichen Journalisten Victor Lenzen handelt, der ein unbescholtenes Leben führt. Obwohl sie den Täter damals nur kurz sah und elf Jahre vergangen sind, ist sie fest davon überzeugt, sich nicht zu irren. Aber sie weiß auch, dass ihr die Polizei kaum glauben wird, wie schon damals. Sie beschließt, Lenzen für ein Interview zu sich einzuladen und ihm eine Falle zu stellen ...

Bewertung:

Gleich mit ihrem Debütroman "Die Falle" sorgte Melanie Raabe für Furore in der Krimiszene; in Windeseile wurde das Werk in weitere Sprachen übersetzt, ebenso wie die Filmrechte verkauft wurden. Der Erfolg ist durchaus nachvollziehbar, ist "Die Falle" doch ein spannender und wendungsreicher Thriller, der gute Unterhaltung schenkt.

Ich-Erzählerin Linda Conrads ist eine interessante Figur, mit der man einerseits fühlt und bei der man andererseits nicht ganz sicher sein kann, wie zuverlässig ihre Aussagen sind. Nicht, dass man Linda Lügen unterstellen würde, aber es ist gut möglich, dass ihre Erinnerungen sie trügen. Nur ganz kurz hat sie damals den Mörder ihrer Schwester gesehen; trotzdem ist sie felsenfest davon überzeugt, ihn in Victor Lenzen wiederzuerkennen. Brisanterweise stellt sich im weiteren Handlungsverlauf heraus, dass manche Ermittler seinerzeit Linda nicht nur eine Täuschung unterstellten, sondern sie auch für verdächtig hielten. Und tatsächlich erfährt man nach und nach, dass Lindas Verhältnis zu ihrer Schwester Anna längst nicht nur positiv war. Annas egoistische Züge kommen zum Vorschein; zudem leidet Linda noch heute darunter, dass ihre Eltern offenbar immer Anna bevorzugten. Man darf also gespannt sein, inwieweit sich Lindas Erinnerung als richtig erweist. Und natürlich läuft alles auf die Begegnung zwischen Linda und Victor Lenzen heraus - die Maus lädt gewissermaßen die Katze in ihre vier Wände ein. Es ist nicht abzusehen, wie dieses Treffen endet, wie Linda dem vermeintlichen Mörder gegenübertreten wird, wie er reagiert. Es gibt so viele Möglichkeiten, und die Autorin wählt zielgerichtet diejenigen aus, die die Handlung so unterhaltsam und spannend machen.

Linda Conrads' Verhaltensweisen werden grundsätzlich plausibel dargestellt. Man kann gut nachvollziehen, weshalb sie auf eigene Faust handelt und nicht die Polizei über ihren Verdacht informiert - schließlich hat sie keine Beweise in der Hand, und sie fürchtet, dass Lenzen durch eine Befragung der Polizei bloß gewarnt sein und das Land verlassen würde, was sich ihm als Auslandsreporter ja anbietet. Insgesamt ist Linda eine sehr komplexe Figur. Einerseits berühmte Bestsellerautorin, andererseits lebt sie fernab jeder Öffentlichkeit. Kontakt hat sie hauptsächlich zu ihrem Verleger Norbert und zu ihrer Assistentin Charlotte. Man hat Verständnis für ihre psychische Situation, aber ob man ihren Wahrnehmungen hundertprozentig trauen kann, ist längst nicht gewiss.

Linda lockt Victor Lenzen nicht nur mit einem Interview, sondern auch mit ihrem neuen Roman, der verklausuliert die Geschichte vom Mord ihrer Schwester erzählt. Immer wieder werden einige Seiten dieses Romans in die Handlung eingeflochten, und der Leser erfährt auf diesem Weg einige Details über die Vergangenheit. Es kann zunächst irritieren, mit einem "Buch im Buch" konfrontiert zu werden, aber da die Auszüge aus Linda Conrads Roman nicht zu lang sind und viel zum Verständnis beitragen, sollte es nicht weiter stören.

Frei von Schwächen ist das Debütwerk freilich nicht. Ein kleines bisschen konstruiert wird es schon gegen Ende in ein paar Punkten. Zudem ist Lindas luxuriöse Lebenssituation, die ihr nicht nur eine Villa mit allem Komfort, sondern auch Angestellte sowie ausgefeiltes technisches Repertoire zur Überwachung garantiert, nicht sehr glaubwürdig. Weiterhin ist nicht ganz stimmig, dass Linda einerseits zahlreiche Details aus Lenzens Leben recherchiert - auch mit Unterstützung eines Privatdetektivs - und andererseits ein bestimmtes, gar nicht so geheimes Detail übersieht.

Fazit:

"Die Falle" von Melanie Raabe ist ein sehr ordentlicher Debütthriller, der kurzweilige Unterhaltung schenkt. Es gibt zwar ein paar kleine Schwächen, gerade auch gegen Ende hin, dennoch ist das Gesamtergebnis insgesamt überzeugend.