26. August 2016

Anders - Anita Terpstra

Produktinfos:

Ausgabe: 2016 bei Blanvalet
Seiten: 384
Buchhandel.de
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Die Autorin:

Anita Terpstra aus den Niederlanden, Jahrgang 1975, studierte zunächst Journalismus und Kunstgeschichte und arbeitete als Journalistin. Ihre weiteren Werke sind bislang (Stand 2016) noch nicht auf Deutsch erschienen.

Inhalt:


Die Meesters aus den Niederlanden sind scheinbar eine glückliche Familie wie aus dem Bilderbuch - Mutter Alma, Vater Linc, die fünfzehnjährige Iris und der elfjährige Sander. Das Leben der Familie ändert sich jedoch mit einem Schlag, als Sander während einer Ferienlager-Nachtwanderung mit seinem besten Freund verschwindet. Der Freund wird kurz darauf tot im Wald gefunden, von Sander gibt es keine Spur.

Sechs Jahre später taucht ein Junge bei der Polizei auf und gibt sich als der vermisste Sander aus. Er erzählt, dass er von einem Mann in einem Wald gefangen gehalten und missbraucht wurde, ehe der Mann verstarb und er somit endlich gehen konnte. Alles deutet darauf hin, dass es tatsächlich Sander ist, und er wird wieder mit seiner Familie vereint.

Vor allem Alma ist überglücklich, ihren Jungen wiederzuhaben, während Iris ihrem nun siebzehnjährigen Bruder eher distanziert begegnet. In den nächsten Wochen bemüht sich die Familie, Sander in sein neues Leben einzugewöhnen. Doch nach dem ersten Überschwang kommen Alma allmählich Zweifel: Sagt Sander in allen Belangen die Wahrheit, oder hat er etwas zu verbergen? Immer mehr deutet sich an, dass Sanders Geschichte nicht in allem stimmig ist ...

Bewertung:


Die meisten Entführungsthriller befassen sich intensiv mit der Suche nach dem Opfer und dem Täter. "Anders" von Anita Terpstra ist tatsächlich anders, denn die eigentliche Handlung setzt erst ein, als das Opfer wieder aufgetaucht ist. Der Roman dreht sich einerseits um die Probleme, die neben der ersten Freude durch eine solch überraschende Wende entstehen, andererseits dreht er sich um die Suche nach der Wahrheit, was in jener Nacht wirklich geschah und ob Sander tatsächlich (nur) Opfer war.

Der erste Punkt ist eher Familiendrama denn Thriller. Natürlich herrscht erst einmal große Freude bei den Meesters, schließlich hatte kaum noch jemand gehofft, Sander lebend wiederzusehen. Doch sechs Jahre sind eine lange Zeit: Aus dem pummeligen Elfjährigen, der am liebsten allein mit seinem Rad durch die Natur fährt, ist ein stiller junger Mann geworden, mit dem seine Angehörigen nicht recht umzugehen wissen. Alma und Linc haben auf Almas Drängen in der Zwischenzeit noch ein drittes Kind bekommen, den kleinen Bas, der zweifellos eine Art Sander-Ersatz darstellen sollte. Die Ehe hat Sanders Verschwinden indessen nicht verkraftet, Alma und Linc sind getrennt; überdies wurde Linc von den Ermittlern verdächtigt und verlor seine Arbeit - aus dem dynamischen Arbeitsmensch ist ein antriebsloser, depressiver Mann geworden. Sander kehrt also nicht heim in eine heile Familie, sondern wird mit komplizierten Verhältnissen konfrontiert. Die Familie tut sich schwer, mit Sander zu reden, er ist verschlossen, gibt nur das Nötigste über die vergangenen sechs Jahre preis. In realistischer Weise zeigt der Roman die Schwierigkeiten auf, die das Auftauchen eines Vermissten mit sich bringen kann.

Schon bald aber halten auch bedrohliche Elemente Einzug in die Handlung, die für viel Spannung sorgen. Kurze Rückblicke in die Zeit vor Sanders Verschwinden verdeutlichen, warum Iris ihrem Bruder so distanziert begegnet. Das Familienleben war mitnichten so harmonisch, wie es nach außen hin den Anschein pflegte, stattdessen gab es immer wieder bedenkliche Zwischenfälle mit Sander, die aber außer Iris niemand richtig einzuordnen wusste. Es ist offensichtlich, dass Sander zu gefährlichen und bösartigen Dingen fähig war - und möglicherweise immer noch ist. Alma hat davor zwar damals die Augen verschlossen, aber nun fallen ihr zumindest immer wieder Widersprüche auf, die Sander bezüglich seiner Entführung erzählt - und sie fragt sich, ob er sich nur falsch erinnert oder ob er bewusst lügt.

Zudem gibt es immer wieder Andeutungen, dass Iris und ihr damaliger Freund Christiaan etwas in jener Nacht im Ferienlager getan haben, was mit Sander zu tun hat und was sie verborgen halten wollen - um was es sich dabei handelt, erfährt der Leser erst spät. Schließlich kommt auch noch die Frage auf, ob es sich überhaupt um Sander handelt. Ein DNA-Test wurde nicht gemacht, da Sanders Geschichte stimmig schien, er optische Ähnlichkeit mit dem elfjährigen Sander aufwies und ihm genau wie Sander eine Fingerkuppe fehlte. Doch nach einer Weile ertappt sich Alma bei der Frage, ob sie es nicht vielleicht doch mit einem Betrüger zu tun haben.

Anita Terpstra versteht es glänzend, den Leser mit sich steigender Spannung zu fesseln, die Situation immer bedrohlicher zu gestalten, ohne dass allzu früh zu viel verraten würde. Am Ende gibt es mehrere Wendungen und Enthüllungen, die sich teilweise schon angedeutet haben; der Schluss hält aber auch Überraschungen bereit und ist vor allem sehr konsequent statt weichgespült. Man kann kritisieren, dass die Dramatik etwas gekünstelt wirkt, ist sie doch sehr auf die Spitze getrieben mit so vielen Lügen, die sich alle auf einmal offenbaren. Einer dieser Punkte für sich wäre realistisch, in der Anhäufung, was sich am Ende offenlegt, erscheint es etwas konstruiert. Das gilt erst recht für den letzten Satz, der noch einmal eine schockierende Andeutung präsentieren will, gerade für regelmäßige Leser des Genres aber sehr abgedroschen erscheint. Ein bisschen schade ist zudem, dass sich Alma nur bedingt als Sympathiefigur eignet, zu sehr distanziert man sich durch ihre deutliche Bevorzugung Sanders gegenüber Iris in der Vergangenheit.

Etwas verwirrend ist zudem die Erwähnung, dass die 2007 in Portugal verschwundene Madeleine McCann inzwischen sechs Jahre alt sein würde - wenn man davon ausgeht, dass die Handlung etwa zur Erscheinungszeit des Romans spielt, wäre sie zu dem Zeitpunkt bereits elf gewesen. Möglicherweise ein Übersetzungsfehler ist die Aussage, jemand sei wegen Pädophilie verurteilt worden, gemeint ist wohl Kindesmissbrauch.


Fazit:

"Anders" von Anita Terpstra ist ein spannender und kurzweiliger Thriller mit reizvoller Grundthematik, der zu einer schnellen Lektüre einlädt. Von kleinen Kritikpunkten abgesehen, erwartet den Leser hier mehr als nur solide Unterhaltung - empfehlenswert für alle Thrillerfans.

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