11. Juli 2014

... und das Eis bleibt stumm - Martin Selber

Produktinfos:

Ausgabe: 1955
Seiten: 351
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Der Autor:

Martin Selber, 1924-2006, betätigte sich nach dem Krieg in mehreren Berufen und lebte seit den fünfziger Jahren als Schriftsteller. Bekannt ist er vor allem für Heimatromane und Jugendbücher.

Inhalt:

England 1845: Der erfahrene britische Admiral Sir John Franklin bricht mit knapp 130 Mann zu einer der bedeutendsten Polarexpeditionen auf. Ziel ist die Erschließung der Nordwestpassage, die Handelsschiffen den kürzesten Weg nach Ostasien ermöglichen soll, die nördlich um Amerika führende Route zum Stillen Ozean. Obwohl Sir Franklin mit 59 Jahren von einigen Kritikern als zu alt empfunden wird, ist er von seinem Vorhaben überzeugt.

Am 19. Mai 1845 brechen die beiden Schiffe "Erebus" unter Admiral Sir John Franklin und Kapitän James Fitzjames und "Terror" unter Kapitän Francis Crozier auf. An Bord befinden sich Vorräte für mindestens fünf Jahre, zudem Waffen und Munition, um wilde Tiere zu erledigen. Die Mannschaft ist frohen Mutes, auch wenn es unter den Männern kleine Querelen gibt. Während Sir Franklin und Kapitän Crozier Souveränität vermitteln, sorgen Störenfriede wie der hinterhältige Matrose John Black für Unruhen.

1845/46 überwintern die Schiffe vor der Beechey-Insel in der kanadischen Arktis und dringen im Sommer 1846 bis zur King-William-Insel vor, wo hartnäckiges Packeis sie festhält. Der Sommer 1847 entpuppt sich als deutlich kälter als erwartet, sodass die Schiffe an der Weiterfahrt gehindert werden. Langsam breitet sich Besorgnis aus. Zudem sind große Teile des Konservenvorrats verdorben und ungenießbar, wilde Tiere werden aufgrund mangelnder Ausrüstung und der außergewöhnlichen Kälte nur selten erlegt. Als auch 1848 die Weiterfahrt unmöglich ist, ahnen die Expeditionsteilnehmer, dass sie auf eine Katastrophe zusteuern ...

Bewertung:

"Wißt ihr", sagte der Matrose William Green, "mitunter habe ich einen Alptraum: Hundert Männer ziehen in einem solchen Sturm und in solcher Finsternis über das Eis nach Süden. Da ist keine Hütte und kein Schiff, kein wärmendes Feuer, vielleicht nicht einmal ein Glas Rum - da ist nur Sturm und Nacht und Hoffnungslosigkeit."

Es war die bis dahin bestausgerüstete Polarexpedition, die Sir John Franklin endgültig zum Helden der Arktis und die Nordwestpassage zum schnellsten Seeweg zu den Schätzen Indiens und Chinas machen sollte. Stattdessen endete das spektakuläre Unternehmen in einer beispiellosen Katastrophe, die 129 Männer in den Tod führte. Martin Selbers Abenteuerroman gilt als erste literarische Umsetzung dieser Expedition, die Leseratten vor allem durch Dan Simmons' Terror bekannt geworden sein dürfte.

Der Autor hält sich grundsätzlich eng an die überlieferten Fakten, die freilich seit Erscheinen des Romans (1955) mittlerweile nochmals Ergänzungen erfahren haben. Grundsätzlich ist es eine Kombination aus mehreren Faktoren, die zum Scheitern der Expedition geführt haben; die Gewichtung der einzelnen Faktoren hingegen mag Raum für Spekulationen geben. Selber verarbeitet die außergewöhnlich kalten Temperaturen, die verdorbenen Konservendosen, den Skorbut durch Vitamin C-Mangel sowie falsche Entscheidungen vor allem seitens Admiral Sir Franklin.

Auf letzteren Punkt legt er seinen Fokus. Sir Franklin erscheint in der Rezeption durchaus als zwiespältige Gestalt. Auf der einen Seite hatte Franklin bereits bedeutende Reisen durch die Arktis unternommen und galt als erfahrener Polarexperte. Bei seinen Leuten nahm er den Status einer väterlichen Vorbildfigur ein; viele Briefe der Besatzung, die bei Grönland an das bis dahin begleitende Versorgungsschiff mitgegeben wurden, bezeugen das tiefe Vertrauen, das die Männer Franklin entgegen brachten und den Optimismus, den sie aus seiner Leitung schöpften. Auf der anderen Seite war Sir Franklin mit 59 Jahren außergewöhnlich alt für eine solch gefahrenvolle und anspruchsvolle Reise und immerhin seit bereits 17 Jahren nicht mehr in der Arktis gewesen. Des Weiteren missachtete Franklin offenbar die Anweisung, unterwegs möglichst viele Nachrichten zu deponieren, die Suchmannschaften Hinweise auf seine Route hätte liefern können.

Diesen letzten Aspekt rückt Martin Selber prominent in den Mittelpunkt. Sein Sir John Franklin ist ein erfahrener, aber auch eigensinniger Mann, der sich und der Welt noch einmal seine außerordentlichen Fähigkeiten beweisen will - und das um jeden Preis. Dabei wird dem Leser früh deutlich gemacht, dass Franklin nicht bereit ist, irgendwelche Verzögerungen in Kauf zu nehmen - und sei es auch auf Kosten der Sicherheit. Die Anweisung, regelmäßig Nachrichten zu hinterlassen, ignoriert er bewusst: Jede Rückversicherung signalisiere seiner Mannschaft Unsicherheit, die hinderlich auf der Expedition wäre. Franklin erscheint es dagegen richtig, alle Bande zu Großbritannien abzubrechen und mit dem Verzicht auf hinweisgebende Nachrichten seiner Besatzung zu zeigen, dass keine Gefahr des Scheiterns besteht - und dass Nachrichten für Suchmannschaften daher unnötig seien. Franklin erscheint vor allem zu Beginn des Romans als recht kalter und erfolgsbesessener Charakter. Als der Erste Steuermann und Geograph Sergeant zu Franklins geplanter Route einwendet, er würde die Schiffe damit gefährden, entgegnet er: "Mein Gott, ja, die Schiffe! - Was liegt an den Schiffen, wenn ich nur die Durchfahrt finde."

Bei der Darstellung des erfolgsbesessenen Franklins, der sich bis zuletzt gegen gute Hinweise seiner Untergeben sperrt und erheblichen Anteil am Scheitern der Mission trägt, ist Martin Selber weiter gegangen, als es die Faktenlage bezeugt. Das betrifft insbesondere den Tod Sir Franklins, den die einzige erhaltene Nachricht der Expedition auf den 11. Juni 1847 datiert. Franklins Todesursache ist unbekannt - vielleicht war er den Strapazen einfach nicht mehr gewachsen, vielleicht war sein Körper durch eine Bleivergiftung durch die Konserven geschwächt. Martin Selber präsentiert hier eine ganz eigene Variante, die brisant ist und das von ihm geschaffene Franklin-Bild passend abrundet. Seine Interpretation ist legitim und es ist möglich, dass sich die Dinge tatsächlich so abspielten wie hier geschildert - doch sollte der Leser im Hinterkopf behalten, dass der wahre John Franklin nicht zwingend diesem Bild entspricht.

Im Nachwort erklärt der Autor, er "verzichtete von vornherein auf einen eigentlichen Helden und seinen Gegenspieler". Ganz richtig ist dies nicht, denn "Terror"-Kapitän Francis Crozier rückt hier doch sehr nah in die Position des Helden, der früh ahnt, dass Admiral Franklin falsche Entscheidungen trifft. Crozier war mit 49 Jahren nach Franklin der Älteste an Bord und wird nicht erst seit Michael Smith' einfühlsamer Biographie "Last Man Standing?" geradezu mythologisch überhöht. Wer sich näher mit Crozier befasst, der wird schnell eingenommen und fasziniert von diesem souveränen, ruhigen, erfahrenen, klugen Mann, der doch im Leben auch so viele Rückschläge erlitt (inklusive eines abgelehnten Heiratsantrags von Franklins Nichte Sophia).

Nach Franklins Tod übernahm er, wie die gefundene Nachricht bezeugt, die Leitung der Expedition und versuchte offenbar bis zum Schluss, seine Männer aus der weißen Hölle zu retten. Es gibt Hinweise, dass es sich bei einem der letzten Überlebenden, von dem die Inuit berichteten, um Crozier handelte, dem "last man standing", der dann wohl doch irgendwann vor den Strapazen der Arktis kapitulieren musste. Es ist leicht nachzuvollziehen, weshalb sowohl Martin Selber als auch Dan Simmons in ihren Romanen Francis Crozier zur zentralen Gestalt machten und ihm bis zum Schluss einen besonderen Platz in ihren Werken einräumten.

Interessanterweise gestalten Selber und Simmons noch eine weitere Figur sehr ähnlich, über die weitaus weniger überliefert ist, nämlich Eislotse Thomas Blanky. Martin Selber porträtiert ihn als humorvollen und gewitzten, manchmal etwas schnodderigen Matrosen, der sich besonders des Schiffsjungen Ben annimmt und später zu Croziers Vertrauten wird. Als Antagonist fungiert der Matrose John Black, eine typische hinterhältige Verräterfigur. Black gehört zu den Figuren, die der Autor für seine Geschichte hinzuerfunden hat. Bei Simmons übernimmt der Kalfaterersmaat Cornelius Hickey diese Rolle, mit dem Unterschied, dass Hickey tatsächlich zur Besatzung gehörte, über seinen wahren Charakter aber nichts bekannt ist. In moralischer Hinsicht ist es sicherlich angemessener, wie Martin Selber bei den unangenehmen Rollen auf fiktive Namen zurückzugreifen.

Eine weitere fiktive und sehr gelungene Figur ist der deutsche Rudergänger Karl Bauer, ein begabter, verschlossener junger Mann, dem aus Statusgründen die Ehe mit seiner großen Liebe Maria versagt geblieben ist. Aus Trotz entschloss er sich, Admiral Franklin ins Eis zu folgen, doch seine Gedanken schweifen immer wieder zu Maria, die wiederum in Deutschland verzweifelt auf eine Nachricht von ihm wartet. Angeregt wurde Martin Selber zu dieser Figur durch den Fund eines toten Besatzungsmitgliedes, das ein Bündel deutscher Briefe bei sich trug, die ihm offenbar so wichtig waren, dass er sich bis zum Schluss nicht von ihnen trennen wollte.

Auch wenn der Ausgang der Expedition bekannt ist, verfolgt man gebannt die Handlung und leidet mit den Figuren, die der Autor durchaus überzeugend zu Leben erweckt. Die Hintergründe der Expedition, die geographischen Gegebenheiten und der Schiffsalltag werden auch für Laien anschaulich und verständlich geschildert. Das Geschehen schaltet regelmäßig zwischen den beiden Schiffen hin und her sowie ab und zu nach London, um die dortigen Entwicklungen zu verfolgen. Herrschte anfangs noch große Euphorie und Vertrauen in Franklins Mission, schlich sich nach und nach Besorgnis ein, die jedoch von anderen Ereignissen überschattet wurde. Während sich etwa Franklins Ehefrau Lady Jane und der Polarexperte James Clark Ross um den Verblieb der Schiffe sorgten, war die britische Admiralität lange Zeit durch die irische Hungersnot, die Intervention in Portugal, den Krieg in Asien und die Finanzkrise abgelenkt. Vereinzelt wird zu den besorgten Angehörigen übergeblendet, die nur noch hoffen können, dass ihr Sohn oder Ehemann aus dem Eis nach Hause kehrt.

Zu den eher gering ausfallenden Schwächen des Romans gehört der Umgang mit dem Kannibalismus, den einige der Männer begingen, wie nach Inuitberichten und Untersuchungen der Knochen als erwiesen gilt. Die britischen Zeitgenossen konnten diese Tatsache lange Zeit nicht akzeptieren und hielten die Inuitberichte für Lügen. Der Autor bringt dieses Thema erst sehr spät in der Handlung auf und stellt das Handeln jener Männer negativ dar.

Das ist schade, verpasst er doch damit die Möglichkeit, für die Notlage der verzweifelten Überlebenden zu sensibilisieren. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Kannibalen unter den Überlebenden vorsätzlich ihre Kameraden töteten, um sie zu verzehren - vermutlich haben die Männer einfach aus existenzieller Not heraus an ihren durch Kälte und Krankheit verstorbenen Leidensgenossen gehandelt. Spätestens seit dem Anden-Absturz der uruguayischen Rugbymannschaft 1972 wird Kannibalismus in Notsituationen mit mehr Verständnis begegnet. Die Vorstellung mag abstoßend sein, doch sollte niemand für seinen Überlebensinstinkt verurteilt werden. Der Autor versäumt es hier, das Thema differenzierter zu behandeln, sondern bestätigt eher implizit die starre viktorianische Denkweise. Des Weiteren stört ab und zu der etwas pathetische Tonfall des Erzählers, der dem Roman bisweilen einen leicht angestaubten Charakter verleiht.

Fazit:


Ein insgesamt gelungener Abenteuerroman, der sich recht eng an die wahren Begebenheiten der Franklin-Expedition anlehnt. Spannung, dichte Atmosphäre und gut gestaltete Charaktere machen die Lektüre lohnenswert; die Schwächen halten sich demgegenüber in Grenzen.

1 Kommentar:

  1. Diese Rezension entspricht genau den Eindrücken und Gefühlen, die ich hatte als ich dieses Buch Anfang der 1970er Jahre zu ersten mal las.
    Das Besondere für mich war vor allem, dass ein Großteil der Besatzungsmitglieder authentisch sind und damit ganz anders als fiktive Figuren betrachtet werden.
    Es lohnt sich dieses Buch mehrmals zu lesen.

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