31. Juli 2013

Das dritte Buch des Horrors (1900-1920) - Joachim Körber (Hrsg.)

Produktinfos:

Ausgabe: 1992
Seiten: 349
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Der Herausgeber:

Das Dritte Buch des Horrors ist Teil einer Reihe zur Geschichte der unheimlichen Literatur, der sich mit Erzählungen von 1900 bis 1920 befasst. Joachim Körber hat zehn Geschichte aus jener Zeitspanne zusammengestellt. Neben den Geschichten bietet der Band zudem noch ein Vorwort und einen Anhang mit weiteren Lektüretipps, sowohl zu Autoren dieses Buches als auch zu weiteren, die in diese Zeit gehören.

Inhalt:


Die Affenpfote - William Wymark Jacobs (1902) S. 11-24
Der alte Kolonialoffizier Sergeant Major Morris besucht seinen Freund Mr. White und erzählt ihm, dessen Frau und ihrem Sohn Herbert von seinen Abenteuern in Indien. Dabei kommt das Gespräch auf eine magische Affenpfote, die der Sergeant-Major bei sich trägt. Diese Pfote erfülle jedem seiner Besitzer drei Wünsche, der Sergeant-Major rät Mr. White aber dringend davon ab, sie zu benutzen - jeder der Wünsche bringe nämlich Unglück mit sich. Die Whites sind amüsiert und fasziniert zugleich von dieser Geschichte und trotz des Rates seines Freundes wünscht sich Mr. White eine bestimmte Geldsumme - und das fatale Schicksal nimmt damit seinen Lauf ...

Die Topharbraut - Hanns Heinz Ewers (1903)
S. 25-58
Ein Schriftsteller sucht dringend eine Bleibe in Berlin. Notgedrungen mietet er zwei Zimmer, von denen eines als Durchgangszimmer für seinen Nachbarn, den Privatgelehrten Fritz Beckers, dient. Nach und nach lernen sich die beiden Männer besser kennen. Beckers entpuppt sich als Orientalist und ist ein interessanter, aber auch sehr geheimnisvoller Gesprächspartner. Mit der Zeit ahnt der Schriftsteller, dass der Gelehrte einiges zu verbergen hat ...

Tropischer Schrecken - William Hope Hodgson (1905)
S. 59-72
Auf dem Rückweg von Melbourne nach London gerät die Glen Doon in eine Flaute. Während der nächtlichen Wache entdecken die Matrosen Thompson und Joky plötzlich den Tentakel einer grässlichen Kreatur, der sich über die Reling schiebt. Rasch ist das Schiff in Alarmbereitschaft, doch die Männer scheinen dem Ungeheuer hilflos ausgeliefert ...

Die Weiden - Algernon Blackwood (1907)
S. 73-144
Zwei Freunde machen eine Kanufahrt auf der Donau. Als es am Nachmittag immer stürmischer wird und das Hochwasser steigt, gehen sie an einer kleinen Insel an Land und bereiten ihr Nachtlager vor. Die unberührte Natur mit den dichten Weiden, dem zunehmenden Wind und dem steigenden Wasser scheint den beiden Abenteurern zunehmend bedrohlich - beinah, als sei die Natur lebendig und ihnen feindlich gesinnt. Ihr Gefühl verstärkt sich, als sie auf dem Fluss eine Gestalt sehen, die ihnen offenbar eindringliche Warnungen zuruft, ehe sie verschwindet ...

Der gelbe Schädel - Georg von der Gabelentz (1909)
S. 145-200
Bei der jungen russischen Malerin Kathinka treffen sich ihre beiden Freunde Doktor Meßmer und der Maler Karl Asching sowie der mit Kathinka liierte Hobbymaler Albert Schalken. Schalken erzählt von seinem Fund einer verfallenen Grabstätte, aus der er kurzerhand einen Schädel als Souvenir mitnahm. Der seltsam gelb gefärbte Schädel scheint eine merkwürdige Anziehungskraft auf ihn auszuüben - und Schalken zu verändern ...

Das Chorgestühl zu Barchester - M. R. James (1911)
S. 201-224
Dr. Haynes hofft schon seit Langem, in Barchester die Stelle des Archidiakons übernehmen zu können - doch dabei steht ihm noch sein hochbetagter Vorgänger im Weg. Haynes, selbst nicht mehr der Jüngste, hat nicht die Geduld, auf dessen Ableben zu warten und inszeniert einen tödlichen Unfall. Haynes erhält die Stelle und scheint sein Ziel erreicht zu haben - doch die Rache aus dem Jenseits lässt nicht lange auf sich warten ...

Wie die Angst aus der langen Galerie verschwand - E. F. Benson (1912) S. 225-244
Das Familienanwesen der Perevils wird seit Langem regelmäßig von Geistern der Ahnen heimgesucht. Die Perevils gehen damit humorvoll um und stören sich nicht an den gewöhnlich harmlosen Erscheinungen. Eine Ausnahme bilden jedoch die Geister der Zwillinge, die im Jahr 1602 von Dick Perevil ermordet wurden, um sich die Herrschaft zu sichern. Seither bedeutet ihr Erscheinen in der langen Galerie großes Unglück für die Familie ...

Das Grabmal auf dem Père Lachaise - Karl Hans Strobl (1914) S. 245-278
Die verstorbene Gräfin Anna Feodorowna Wassilska hinterlässt demjenigen ihr Vermögen, der ein Jahr lang in ihrem Mausoleum verbringt. Der arme Naturwissenschaftler Ernest lässt sich darauf ein und wird zweimal am Tag mit Nahrungsmittel von Iwan, dem schweigsamen Diener der Gräfin, versorgt. Während seines Aufenthaltes sinniert Ernest über den Sinn dieses seltsamen Testaments ...

Meister Leonhard - Gustav Meyrink (1916) S. 279-319
Leonhards Leben ist von Beginn an durch Unglück und seine strenge, manische Mutter geprägt, bis er sich zu einer Bluttat gezwungen sieht. Nach und nach erschließt sich ihm ein furchtbares Familiengeheimnis und er taucht ein in die bedrohliche Welt des Okkultismus ....

Die flüsternde Mumie - Sax Rohmer (1918) S. 321-338
Kernaby und sein Bekannter Felix Breton besuchen eine Tanzvorführung in Kairo. Dabei findet der Maler Breton Gefallen an einer schönen Tänzerin, die ihm Modell für ein Gemälde sitzen soll. Kernaby erhält daraufhin die Warnung, dass ein geheimnisvoller schwarzer Derwisch die Tänzerin begehrt und es äußerst riskant ist, sich ihr zu nähern. Kernaby richtet Breton diese Warnung aus, doch dieser lacht nur darüber ...

Wie der Horror ins 20. Jahrhundert schlich

Die Affenpfote bietet nicht nur einen gelungenen Einstieg in den Band, sondern ist die beste Geschichte des Buches und generell eine der lesenwertesten britischen Gruselgeschichten. Ihr Autor William Wymark Jacobs ist bedauerlicherweise stark in Vergessenheit geraten, doch der Mythos um die Affenpfote ist nach wie vor lebendig und wird gerne in Geschichten oder Filmen aufgegriffen. Die dichte Atmosphäre der Erzählung steigert sich im Handlungsverlauf bis zu einer fast unerträglichen Beklemmung, ehe sie in Horror und Melancholie umschlägt. Die Sehnsucht nach Wunscherfüllung durch Magie erfährt hier ähnlich wie in Teufelspakten auf furchtbare Weise eine fatale Wendung, die davor warnt, in den Schicksalslauf einzugreifen. Besonders reizvoll sind die geschickten Andeutungen des Erzählers, die die Phantasie des Lesers anregen und die wirkungsvoller sind als es explizite Ausführungen sein könnten. Wer sich für unheimliche Literatur interessiert, kommt an dieser Geschichte nicht vorbei - und wird nach der Lektüre mit Sicherheit jede Affenpfote dankend ablehnen.

Die Topharbraut fällt demgegenüber deutlich ab, ohne dabei schlecht zu sein. Hanns Heinz Ewers gehört, auch wenn viele seiner Werke der Trivialliteratur zuzuordnen sind, zweifellos zu den wichtigen deutschen Vertretern unheimlicher Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, bekannt vor allem für seinen Roman "Alraune" oder etwa für die schonungslose Novelle "Die Tomatensauce" (die sich wegen ihrer sehr expliziten Splatter-Schilderungen nur für Leser mit sehr robusten Mägen empfiehlt). Diese Geschichte ist zwar kein Glanzstück der unheimlichen Literatur und vor allem etwas vorhersehbar, aber doch sehr solide und spielt gekonnt mit einer Mischung aus düsteren Andeutungen und trockenem Humor. Anfangs etwas gewöhnungsbedürftig ist der etwas hastige Stil, der letztlich aber gut zur lakonischen Erzählweise passt.

Tropischer Schrecken ist sicher nicht die beste der vielen Seefahrtgeschichten William Hope Hodgson, verglichen etwa mit "Stimme in der Nacht" oder "Die Herrenlose". Dabei weiß diese Geschichte dennoch über weite Strecken zu gefallen, transportiert sie doch überzeugend und intensiv die aufsteigende Panik des Ich-Erzählers Thompson. Enttäuschend ist dagegen das etwas lapidare und plakative Ende, das der Geschichte nachträglich etwas von ihrer Wirkung nimmt.

Mit Die Weiden liegt der zweite eindeutige Höhepunkt dieses Bandes vor - eine meisterhafte Geschichte von Algernon Blackwood, die als Paradebeispiel für atmosphärisches Erzählen dienen kann. Die eigentliche Handlung ließe sich in wenigen Sätzen zusammenfassen - und doch wird es keine Sekunde langweilig, den ausführlichen Beschreibungen zu folgen, die die dunkle Seele dieser Insel offenbaren und den Schrecken des Ich-Erzählers spürbar machen, der sich nach und nach bewusster wird: "Die Weiden waren gegen uns!" Es ist dieses Gefühl, bei einer Wattwanderung von der Flut überrascht zu werden, einen Orkan auf See zu erleben oder sich während eines Gewitters im Wald zu verkriechen, dieses Wechselspiel aus Angst und Ehrfurcht vor Schrecken und Schönheit der Natur, das Algernon Blackwood hier auf wunderbare Weise einfängt und mit irrationalen Elementen auflädt. H.P. Lovecraft soll sie als beste je geschriebene englische Geschichte bezeichnet haben - abwegig ist seine Meinung sicherlich nicht.

Der gelbe Schädel ist eine wenig beachtete Gruselgeschichte, die nach anfänglichem Charme tatsächlich mehr und mehr von ihrem Reiz einbüßt. Die Charaktere sind zweifellos recht interessant und die Ausgangslage verspricht eine gewisse Spannung. Doch die zweite Hälfte der Geschichte vermag eher wenig zu überzeugen; das Ende ist vorhersehbar, der Horror verpufft, anstatt sich dem Leser nachhaltig einzuprägen und an einigen Stellen hätten ihr Straffungen gut getan. Kein wirklich schlechter, aber doch allenfalls durchschnittlicher Beitrag in diesem Band.

Das Chorgestühl zu Barchester ist eine recht typische Erzählung aus dem Œuvre M.-R. James, der gerne rachsüchtige Geister in seinen Erzählungen einsetzt. Die Geschichte liest sich anfangs etwas schwerfällig, da sie auf mehreren Ebenen und die Rahmenhandlung des Ich-Erzählers mit historischen Aufzeichnungen aus Briefen und Tagebüchern mischt, wobei letztere in einem oft sperrigen Stil verfasst sind. Inhaltlich jedoch vermag die Geschichte zu überzeugen und bietet traditionellen Grusel, der ohne Schockeffekte auskommt.

Wie die Angst aus der langen Galerie verschwand ist dank ihres trockenen Humors eine für E.F. Benson sehr typische Geschichte, die Amüsement mit wohligem Gruseln vereint. Es ist nicht leicht, eine solche Mischung zufriedenstellend zu kreieren, aber Benson gelingt es hervorragend, wie nebenbei witzige Spitzen an den passenden Stellen in eine unheilvolle Szenerie einzubinden. Das gefühlvolle Ende ist ausgesprochen gelungen und hinterlässt den Leser in einer sehr positiven Stimmung.

Das Grabmal auf dem Père Lachaise ist eine morbide Geschichte mit sehr effektvollem Ende, die sich des Vampirmotivs bedient. Bereits die Ausgangslage mit dem ungewöhnlichen Vermächtnis, dem unheimlichen Diener und der klaustrophobischen Atmosphäre weiß zu fesseln, während sich mit fortschreitender Handlung der Horror einschleicht und allmählich die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit verwischt. Die Erzählung reicht zwar nicht ganz an die Höhepunkte des Bandes heran, zeigt aber dennoch recht deutlich, weshalb Karl Hans Strobl zu den wichtigsten Vertretern österreichischer Phantastik seiner Zeit gezählt werden muss.

Gustav Meyrinks Name ist natürlich in erster Linie mit seinem Roman "Der Golem" verbunden. Meister Leonhard ist ein typisches Beispiel für sein ausgeprägtes Interesse an allem Okkulten, Mystischen und Esoterischen, das er hier großzügig ausspielt. Überzeugend ist dabei vor allem die erste Hälfte der Erzählung, wohingegen der zweite Teil ein wenig an Überfrachtung leidet. Insgesamt ein eher durchschnittlicher Beitrag in diesem Band, auch wenn Gustav Meyrink als bedeutender Vertreter der Phantastik natürlich nicht in einem Werk zu jener Zeitspanne fehlen darf.

Der Titel Die flüsternde Mumie ist heute zwar vor allem als eine Folge der Drei Fragezeichen populär, setzt das Thema hier allerdings entschieden ernster um. Sax Rohmer ist hauptsächlich für seine unzähligen Bücher zu Dr. Fu Manchu bekannt und trotz seines Erfolges sicher nicht als besonders guter Schriftsteller zu sehen. So ist denn auch diese Geschichte weniger interessant als ihr Titel zunächst vermuten lässt und wer ägyptisch inspirierte Horror-Erzählungen sucht, ist bei Bram Stoker und Sir Arthur Conan Doyle sicherlich besser aufgehoben. Als Ausklang für diesen Band ist die Geschichte daher nicht gerade ideal gewählt, wiewohl sie einen gewissen Unterhaltungscharakter in sich trägt.

Fazit:


Eine bunte Mischung gruseliger Erzählungen von 1900-1920, die die bevorzugten Themen jener Zeitspanne widerspiegeln. Neben einigen hervorragenden Beiträgen finden sich auch schwächere Geschichten wieder, dennoch lohnt sich unterm Strich die Lektüre auf jeden Fall.

30. Juli 2013

Weil ich euch liebte - Linwood Barclay

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Ausgabe: 2012
Seiten: 528
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Der Autor:

Linwood Barclay studierte zunächst Literatur und arbeitete als Journalist in Kanada. 2007 erschien sein Thriller "Ohne ein Wort", der ihn sofort zum Bestsellerautor machte. Weitere Werke sind "Dem Tode nah", "In Todesangst" und "Kein Entkommen".

Inhalt:

Das Leben von Bauunternehmer Glen Garber schlägt jäh in eine Katastrophe um, als seine Frau Sheila bei einem Autounfall stirbt. Der Verlust allein ist schon schlimm genug für Glen und seine achtjährige Tochter Kelly, doch es kommt noch schlimmer - Sheila war offenbar stark alkoholisiert und hat bei dem Unfall zwei weitere Menschen mit in den Tod gerissen.

Glen kämpft mit den widersprüchlichen Gefühlen von Trauer und Wut über Sheilas Verhalten. Kelly wird wegen ihrer Mutter in der Schule angefeindet, Sheilas Mutter gibt Glen die Schuld dafür, dass er nichts von ihrem Alkoholproblem ihrer Tochter wusste. Zusätzlich belastet Glen, dass eines seiner erbauten Häuser abgebrannt ist und die Versicherung die Zahlung verweigert.

Kurz nach Sheilas Tod stirbt ihre Freundin Anne, Mutter von Kellys bester Freundin Emily, auf mysteriöse Weise, indem sie nachts ertrinkt. Bei einem Besuch bei Emily hörte Kelly tags zuvor zufällig ein seltsames Telefongespräch von Anne mit, das sich offenbar um dubiose Geschäfte drehte. Schließlich spricht auch noch Sheilas Freundin Belinda von 62.000 Dollar, die sie Sheila gegeben habe. Allmählich kommt Glen der Verdacht, dass Sheila selbst in gefährliche Machenschaften verwickelt war und dass hinter ihrem angeblichen Unfalltod ein Verbrechen steckt ...

Bewertung:


Sie ähneln sich schon, die Thriller von Linwood Barclay. Wie üblich ist der Ich-Erzähler ein Mann Mitte dreißig, der bis vor Kurzem ein solides Familienleben führte, ehe er sich plötzlich in ein Verbrechen verwickelt sieht, das er auf eigene Faust zu klären versucht. Dabei gelingt es dem Autor nicht, an sein fulminantes "Ohne ein Wort" anzuschließen, dennoch ist auch "Weil ich euch liebte" unterm Strich ein lesenswertes Werk für Fans des Genres.

Dabei sieht es längere Zeit weniger wie ein Thriller aus, da der Fokus doch recht stark auf Glens Versuch liegt, mit Sheilas Tod und ihrer mutmaßlichen Schuld an dem Unfall umzugehen. Glen muss einerseits für seine Tochter Kelly da sein und seine eigene Trauer bewältigen, andererseits seine geschäftlichen Probleme behandeln, auch wenn er sich dazu kaum in der Lage sieht. Für den Leser ist schon recht früh klar, dass hinter Sheilas Tod mehr als ein Unfall steckt, die genauen Zusammenhänge aber werden nur nach und nach aufgedeckt. Ganz allmählich ergibt sich ein komplexes Gefüge, in das eine Vielzahl an Personen verwickelt ist und in dem gefälschte Markentaschen, Medikamentenhandel und der Brand in dem von Glen gebauten Haus zusammenhängen. Vor allem der Zusammenhang zwischen dem Brand und den anderen beiden Punkten wird erst spät offenkundig und es ist durchaus auch für einige Überraschungen gesorgt. Zu seinem Entsetzen muss Glen erkennen, dass einige Personen aus seinem engsten Umfeld in die Geschehnisse verwickelt sein könnten und er weiß schließlich kaum noch, wem er trauen darf. Zudem geht die Polizei zwar den kriminellen Machenschaften nach, doch dass Sheilas Tod ein selbst verschuldeter Unfall war, steht für sie nach wie vor außer Zweifel. Wie üblich versteht sich Linwood Barclay gut darin, seinen Protagonisten sympathisch und im positiven Sinn 'durchschnittlich' zu gestalten - Glen Garber ist kein außergewöhnlicher Charakter und daher sicher auch nicht besonders einprägsam, aber gut geeignet als Identifikationsfigur. Spannung ist eigentlich durchweg gegeben, auch dank einiger Cliffhanger, deren Einsatz Barclay allerdings ruhig sparsamer dosieren könnte. Bei der achtjährigen Kelly fällt auf, dass sie für ihr Alters ein bisschen zu reif erscheint, gerade angesichts der Tatsache, dass sie ihre Mutter durch einen schrecklichen Unfall verloren hat.

Ein eindeutiger Schwachpunkt des Romans ist die allzu häufige Bemühung des Zufalls, um den Handlungsfluss zu bewahren. Besonders ärgerlich ist dies dann, wenn etwa zwei Personen unabhängig voneinander zeitlich eine Art Geistesblitz haben und sich über die gleiche Sache klar werden. Auch das Ende leidet unter dieser Methodik - einerseits ergibt sich zwar eine reizvolle und sicher wenig erwartete Wendung, andererseits ist es wieder einmal sehr konstruiert, wie Glen in genau dem passenden Moment den richtigen Schluss zieht und nur durch die Entdeckung eines bestimmten Details plötzlich eine Eingebung hat, die ihm sonst wohl verborgen geblieben wäre. Zudem neigt Linwood Barclay in diesem Roman auch zu sehr dazu, immer in letzter Sekunde Figuren eintreffen zu lassen oder eine Situation zu entschärfen und schießt dabei ein wenig übers Ziel hinaus. Alles in allem entsteht dadurch der Eindruck, dass aus Phantasielosigkeit bestimmte Entwicklungen auf die leichteste Art gelöst werden, anstatt ein bisschen mehr Raffinesse zu bemühen.

Fazit:


Ein insgesamt unterhaltsamer und sehr kurzweiliger Thriller, der spannend und dramatisch ist und sich leicht und locker liest. Allerdings fallen die häufigen Zufälle störend auf, vor allem gegen Ende wird es damit übertrieben. So zählt das Buch nicht zu Linwood Barclays besten Büchern, empfiehlt sich aber dennoch für eifrige Thrillerleser.

21. Juli 2013

Daphnis und Chloë - Longos

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Ausgabe: 2000
Seiten: 133
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Der Autor:

Über Longos ist so gut wie nichts bekannt. Der griechische Schriftsteller lebte vermutlich Ende des 2. oder Anfang des 3. Jahrhunderts. "Daphnis und Chloë" ist sein einziges bekanntes Werk. da der Roman auf der Insel Lesbos spielt, wird auch Longos dorthin verortet, was jedoch Spekulation ist.

Inhalt:


Die Insel Lesbos, etwa im 3. Jahrhundert: Das Mädchen Chloë und der Junge Daphnis werden als Säuglinge ausgesetzt und jeweils von Pflegeeltern großgezogen. Daphnis wurde von einer Ziege gesäugt, Chloë von einem Schaf und passenderweise kommen sie beide zu Hirtenfamilien. Ihr Vergangenheit ist unklar, doch einige kostbare Beigaben der Kindern weisen auf eine vornehme Herkunft hin.

Daphnis und Chloë hüten bereits im Kindesalter oft gemeinsam die Ziegen und Schafe und freunden sich dabei an. Eines Tages beobachtet Chloë Daphnis beim Baden und verliebt sich beim Anblick seines schönen Körpers in ihn, ohne diese Gefühle recht einordnen zu können. Auch bei Daphnis entbrennen Gefühle, nachdem ihm Chloë einen spielerischen Kuss gegeben hat.

Die beiden Liebenden verbringen so viel Zeit wie möglich miteinander, ohne allerdings mehr als Küsse auszutauschen. Während bei Daphnis allmählich erotische Gefühle erwachen, kommen auf die beiden einige Hindernisse und dramatische Entwicklungen zu wie feindlichen Rivalen und Entführungen ...

Bewertung:

Verglichen mit den großen Epen und Tragödien fristet der antike Roman eine Art Schattendasein in seiner Bekanntheit und freilich ist bereits der neuzeitliche Begriff des "Romans" nur cum grano salis auf diese Erzählform zu übertragen. Grundsätzlich bietet der antike Liebesroman für gewöhnlich vor allem leichte Unterhaltung mit den abenteuerlichen Verwirrungen zweier Liebender, die allerlei Treueproben, räumliche Trennungen und weitere Verwicklungen bestehen müssen, ehe ihnen ein glückliches Ende winkt.

"Daphnis und Chloë" sticht in mancherlei Hinsicht aus diesem recht simplen Schema heraus: Zum einen ist es der einzige bekannte antike Roman, der in die Welt der Bukolik, der Hirtendichtung, entführt, zum anderen sind es mitnichten zwei erwachsende Liebende, sondern Kinder bzw später Jugendliche, die sich erst allmählich in das Reich des Eros vortasten. "Daphnis und Chloë" haben unzählige Adaptionen erfahren, von Jacques Offenbachs Operette über ein Ballett von Maurice Ravel bis hin zu Lithografien von Marc Chagall. Auch Goethe äußerte sich begeistert über dieses Werk, in dem "immer der blaueste, reinste Himmel" herrsche und wie so oft hat er auch damit recht - die Erzählung von Longos erscheint als ein zauberhaftes kleines Stück Literatur, das für ein Weilchen zum Träumen verführt und durchaus öfter im Leben gelesen werden kann.

Longos präsentiert seinen Leser eine idyllische Welt, in der Daphnis und Chloë fast wie im Garten Eden lustwandeln - umgeben von Schafen, Ziegen und Rindern, grünen Wiesen, plätschernden Bächen, romantischen Grotten und ab und zu kreuzen Hirten, Nymphen oder Hirtengott Pan höchstselbst ihren Weg. Die Stärken des Romans liegen vor allem in der niedlich-unschuldig geschilderten Entwicklung der Liebe und Erotik zwischen den beiden sowie in den atmosphärischen Naturbeschreibungen. Sehr schön und bewegend lesen sich die Gefühlswallungen der beiden jungen Menschen, die von der Liebe erfasst werden und doch noch nicht ahnen, was da mit ihnen vorgeht. Sie können nicht genug vom Anblick des Liebsten bekommen, fühlen brennende Sehnsucht in sich, wechseln zwischen Blässe und Kälte; Schlaflosigkeit und Appetitlosigkeit tun ihr Übrigens dazu - kurzum, die Liebeskrankheit hat die beiden mit all ihren typischen Symptomen im ovidischen Stil in ihren Fängen. Leider wissen die beiden nicht, wie sie mit diesen Gefühlen umgehen, geschweige denn, wie sie ausleben können. So verzehren sich in ihrem brennenden Verlangen, ohne eine konkrete Vorstellung zu haben, was man außer Anschauen und Schafehüten denn noch miteinander anstellen könnte.

Der alte Hirte Philetas - der nicht zufällig den gleichen Namen wie der Begründer der antiken Hirtendichtung trägt - gibt ihnen in einer hübschen augenzwinkernden Erzählung des Rat, dem kecken, geflügelten Kerlchen namens "Eros" mit "Kuss und Umarmung und Zusammenliegen mit nackten Leibern" beizukommen und so die Liebeskrankheit zu lindern. Die Küsse und Umarmungen setzen Daphnis und Chloë auch gleich entzückt um, das "Zusammenliegen" kommt etwas später - allerdings bleibt es Dank ihrer Unkenntnis eben tatsächlich zunächst beim bloßen Zusammenliegen, was freilich dann eben auch nicht die erwartete Erfüllung bringt. Diese erotische Naivität ist amüsant und liebenswert zugleich, ohne dabei lächerlich zu wirken.

Eine zugegeben schon etwas irritierende Naivität liegt dagegen vor, wenn Daphnis sich bei der Übernachtung in Chloës Haus eng an deren Vater kuschelt, ihn küsst und umarmt und sich dabei vorstellt, seine Chloë statt ihrem Vater in den Armen zu halten. Auch würde so manche Frau sich an Chloës Stelle bedanken, wenn der Liebste sich, wie Daphnis,  zunächst von einer erfahrenen Frau in die Liebe einweisen lässt, um fürs erste Mal besser gewappnet zu sein. Ein bisschen gewöhnungsbedürftig sind zudem die oftmals sehr knappen Schilderungen wichtiger Ereignisse, die sehr gerafft wirken - so etwa, wenn Chloë entführt und auf der gleichen Seite wieder befreit und zurückgebracht wird und dementsprechend wenig Worte dafür verschwendet werden. Überhaupt sind diese dramatischen Zwischenepisoden zwar ganz nett zu lesen, reichen aber nicht an den Charme der idyllischen Szenerie heran, die den eigentlichen Reiz des Werkes ausmacht.

Fazit:


Ein schöner kleiner antiker Liebesroman, der in die idyllische Hirtenwelt entführt und zurecht ein Klassiker geworden ist. Tipp: Mit einem Becher Schokoladeneis in den sonnigen Garten, an den See oder ans Meer legen und das niedliche Erwachen der ersten Liebe verfolgen - frustrierend nur, wenn man gerade selbst keinen Daphnis bzw keine Chloë an seiner Seite hat. :-)

20. Juli 2013

Benjamin Blümchen als Polizist

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Inhalt:

Es sind Sommerferien in Neustadt, und Benjamin, Otto und Stella faulenzen auf der Zoowiese. Dabei bekommen sie überraschend Besuch vom netten Wachtmeister Krause. Herr Krause hat ein Problem: Er hat vergessen, seinen Urlaubsschein auszufüllen, und nun sind alle Kollegen in Urlaub - Herr Krause ist aber so überarbeitet, dass er dringend einen freien Tag bräuchte.

Deshalb bittet er Benjamin darum, für einen Tag einzuspringen. Natürlich ist Benjamin sofort dazu bereit. Auch Otto und Stella wollen als Helfer dabei sein. Die drei sollen im Bereich rund um den Zoo umherlaufen und den Leuten helfen, die Rat und Hilfe suchen.

Das klingt zunächst langweilig für Stella und Otto. Dann aber erfahren sie, dass ein Gemüsedieb sein Unwesen treibt. Den wollen die drei unbedingt fassen. Zunächst aber müssen sie sich um Verkehrssünder kümmern ...

Bewertung:

Sowohl als Verkehrspolizist im Zoo als auch als Detektiv hat sich Benjamin Blümchen schon betätigt - da liegt es nah, dass er jetzt auch mal offiziell als Wachtmeister einspringt, zumal er ja für seinen Gerechtigkeitssinn bekannt ist.

Auf der Habenseite der Folge stehen vor allem die kindgerechten Einblicke in den Polizistenalltag. Positiv fällt dabei auf, dass eben nicht nur die spektakulären Inhalte wie die Verbrecherjagd thematisiert werden, sondern dass Benjamin, Otto und Stella auch eher langweiligen Aufgaben nachkommen müssen. Hineingepackt werden zudem nützliche Lehren - Karla Kolumna muss beispielsweise energisch von Stella daran erinnert werden, dass man nicht bei Rot über die Straße geht. Wie in fast jeder Folge wird auch für Hilfsbereitschaft plädiert. Ein paar witzige Szenen gibt es obendrein, etwa als Benjamin in seiner übereifrigen Art einer alten Dame über die Straße hilft - obwohl die Dame eigentlich gar nicht dorthin wollte. Ein bisschen Spannung kommt auch auf bei der Frage, wer hinter den Gemüsediebstählen bei Frau Grimm steckt und wie Benjamin und seine Freunde ihn fassen werden. Zielgruppe der Episode sind eindeutig Kinder im Vorschul- und Grundschulalter - hier merkt man doch, dass die Dialoge und die Handlung auf die jüngsten Hörer abgestimmt sind, um sie nicht zu überfordern. Das zeigt sich beispielsweise bei der Jagd auf den Gemüsedieb, die sich sehr harmlos aufklärt - einen richtigen Kriminalfall wie etwa bei Bibi Blocksberg in der Folge "Bibi und der Bankräuber" darf man hier nicht erwarten.

Dies ist auch schon der erste Kritikpunkt - generell ist die Folge wieder einmal, wie so viele der neueren Folgen der letzten Jahre, etwas zu sehr auf die jüngste Zielgruppe fokussiert. Benjamin war schon immer recht naiv, erscheint aber auch hier bisweilen fast schon dümmlich, hingegen neigt Stella regelmäßig zur Besserwisserei. Dies ist die 22. Folge seit ihrem ersten Erscheinen, und immer noch ist recht fragwürdig, ob die Serie wirklich eine dritte Hauptfigur benötigt hätte - eigentlich waren Benjamin und Otto als Duo völlig ausreichend, und zumindest in dieser Folge ist Stella nicht wirklich ein Gewinn. Der Auftritt des Bürgermeisters ist an sich nicht schlecht, hätte aber ruhig noch ausgebaut werden können. Ebenso ist es schade, dass Benjamin dem Polizeipräsidium keinen Besuch abstattet - wie in anderen Folgen durchaus schon geschehen - und überhaupt nur einen einzigen Tag diese Arbeit übernimmt. Insgesamt wird das Potenzial einer so interessanten Berufefolge nicht ausgeschöpft, wenn man bedenkt, wie facettenreich und spannend frühere Episoden dieser Art waren. Was bleibt, ist eine recht solide, aber doch ziemlich durchschnittliche Benjamin-Folge.

Hervorzuheben ist der Auftritt von Karla Kolumna, denn es ist einer ihrer letzten in der Serie gewesen - Gisela Fritsch verstarb am 3. Juli 2013 im Alter von 76 Jahren. Lange schon stand fest, dass sie aus Altersgründen auf absehbarer Zeit "Benjamin Blümchen" und "Bibi Blocksberg" verlassen würde - nun hat diese Planung eine traurige Wendung genommen. Seit 1977 sprach Gisela Fritsch in ihrer unnachahmlichen Art die rasende Reporterin, die Generationen von Hörspielfans auf ewig mit ihrem "Hallöchen hallöchen" und "Sensationell!" im Gedächtnis und in den Ohren bleiben wird. In diesem Sinne ein Dank für die vielen schönen Momente mit Karla gen Himmel, wo es jetzt zum Wiedersehen mit anderen legendären Sprechern wie Edgar Ott (Benjamin Blümchen), Heinz Giese (Bürgermeister), Joachim Nottke (Erzähler), Hermann Wagner (Herr Tierlieb), Barbara Ratthey (Amanda), Maria Axt (Walpurgia), Tilly Lauenstein (Mania) und Ulli Herzog (Regisseur/Erzähler) kommt.

Fazit:

Recht durchschnittliche Folge, die nicht an alte Berufefolgen heranreicht, aber insgesamt unterhaltsam ist. Am interessantesten sicher für die jüngsten Hörer, für die älteren weniger spannend.

Sprechernamen:

Benjamin Blümchen - Jürgen Kluckert
Otto - Katja Primel
Stella - Marie Bierstedt
Karla Kolumna - Gisela Fritsch
Bürgermeister - Roland Hemmo
Paul Pichler - Wilfried Herbst
Wachtmeister Krause - Jörg Döring
Gertrude Grimm - Daphna Rosenthal
Lukas - Jonas Frenz
Erzähler - Gunter Schoß

17. Juli 2013

Entrissen - Tania Carver

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Ausgabe: 2011
Seiten: 512
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Die Autorin:

Tania Carver ist ein Pseudonym des britischen Autors Martyn Waites und seiner Frau Linda. Waites wurde 1963 geboren und schrieb zunächst die beiden Hardboiled-Reihen um die Journalisten Stephen Larkin und Joe Donovan. Unter dem Namen Tania Carver sind in Deutschland mittlerweile die Bände "Entrissen", "Der Stalker" und "Stirb, mein Prinz" erschienen. (Stand 2013)

Inhalt:

Die Mordkommission im britischen Colchester um Detective Inspector Phil Brennan bekommt es mit einer besonders erschütternden Mordserie zu tun. Zum dritten Mal innerhalb weniger Monate wurde eine hochschwangere Frau erstochen. Bei den ersten beiden Morden wurde das Baby direkt mit getötet - diesmal fehlt von dem Säugling jede Spur.

Medizinische Befunde ergeben, dass das Baby bei entsprechender Versorgung eine gute Überlebenschance hat - sofern der Täter in den nächsten Tagen gefunden wird. Zur Unterstützung der Ermittlungen wird Psychologin Marina Esposito hinzugezogen. Vor wenigen Monaten hat Phil bereits schon einmal mit der Profilerin zusammengearbeitet und eine kurze Affäre mit ihr gehabt.

Phil steht der erneuten Zusammenarbeit mit gemischten Gefühlen gegenüber: Einerseits weiß er, dass sie die Beste für den Fall ist, andererseits empfindet er immer noch mehr für sie als ihm lieb ist. Er ahnt allerdings nicht, dass Marina schwanger ist - und auch auf der Liste des Täters steht ...

Bewertung:

Um einen wirklichen Debütroman handelt es sich bei "Entrissen" nicht, denn Martyn Waites veröffentlicht schon seit den Neunzigern - es ist allerdings sein Debüt unter dem Namen Tania Carver, unter dem er gemeinsam mit seiner Ehefrau Linda schreibt. Der Roman präsentiert sich als solider Thriller, der durchaus Lust auf die weiteren Bände der Reihe macht, weiß allerdings auch noch so manchen Schwachpunkt auf.

Die Protagonisten dieses Werks und der Reihe sind die Psychologin Marina und der Mordermittler Phil Brennan, beide sympathisch, beide mit privaten Problemen behaftet, beide engagiert in ihrem Beruf. Vor allem Marinas Leben droht gerade aus den Fugen zu geraten. Marina ist mit ihrem ehemaligen Psychologiedozenten Tony liiert, für den sie allerdings eher platonische als leidenschaftliche Gefühle hat und der für sie eine Art Vaterfigur repräsentiert. Die Affäre mit Phil nagt an ihr, mehr aber noch die ungeplante Schwangerschaft, die sie trotz Tonys Unterstützung zunächst abbrechen wollte. Natürlich trifft es sich mehr als ungünstig, dass Marina ausgerechnet jetzt in einen solchen Fall hineingezogen wird, in dem hochschwangere Frauen ermordet werden. Ihre emotionalen Zwiespälte werden recht gut dargestellt und es ist erfreulich, dass sie trotz ihres Erfolges nicht übertrieben tough wirkt, wie es bei solchen Figuren gerne mal der Fall ist.

Auch Phil Brennans Gefühle lassen sich gut nachempfinden - einerseits die Unsicherheit bezüglich seines Verhältnisses zu Marina und sein genereller Hang zur Melancholie, andererseits der enorme Druck, den Serienmörder so schnell wie möglich zu fassen. Spannung ist durchaus gegeben mit den Fragen, ob das Baby gerettet werden kann, wie nah der Mörder Marina kommt und ob es noch weitere Opfer geben wird - und einen kleinen Überraschungseffekt gibt schließlich noch am Ende. Die Schilderungen der Taten sind nichts für zartbesaitete Leser, die Erotikszenen wiederum werden auf geschickte Weise nur sparsam angedeutet.

Unterm Strich ist "Entrissen" alles andere als schlecht geworden, doch ein echtes Highlight ist der erste Band der Reihe noch nicht. Etwas gewöhnungsbedürftig ist beispielsweise, dass die Handlung anfangs immer wieder Bezug auf frühere Ereignisse nimmt, diese aber nur kurz touchiert und den Eindruck erweckt, man läse den zweiten Band einer Reihe. Die brisanten Ereignisse rund um den früheren Fall, der Marina und Phil zusammenbrachte sowie der Grund, weshalb ihre Affäre so plötzlich endete und keine Chance zu einer Beziehung bekam, sind eine ganze Weile unklar. Erst recht spät erfährt der Leser die genauen Zusammenhänge. Schade ist zudem, dass die Figuren außer Phil und Marina blass bleiben. Vor allem Phils Kollege Sergeant Clayton Thompson ist eher unsympathisch - ein aalglatter Schönling, der sehr von sich überzeugt ist und reihenweise die Frauen flachlegt. Detective Constable Anni Hepburn wiederum ist ein grundsätzlich interessanter Charakter, bleibt aber zu sehr außen vor. Zwischendrin schaltet die Handlung in kurzen Kapiteln zum Täter und deutet einige reizvolle Informationen zu den Hintergründen an, die allerdings teilweise zu platt präsentiert werden und sich einiger Klischees bedienen.

Fazit:

Ein insgesamt solider Thriller, der interessante Protagonisten hat, grundsätzlich spannend ist und durchaus neugierig auf die weiteren Bände der Reihe macht. Dank einiger Schwächen jedoch kein herausragendes Werk.

13. Juli 2013

Pumuckl - Der verstauchte Daumen/Das Parfümfläschchen

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Inhalt:

Der verstauchte Daumen:

Die Kinder aus der Nachbarschaft nutzen eine Eisbahn im Hof für lustige Rutschpartien. Pumuckl beobachtete begeistert vom Fenster aus, wie sie auf dem Eis umher rutschen, hinfallen und ihren Spaß haben. Natürlich will er mitmischen und hat jede Menge Freude dabei, denn als Unsichtbarer kann er sich nicht verletzen.

Als er Meister Eder von dem Spaß erzählt, ist der aber gar nicht erfreut. Die Eisbahn ist viel zu gefährlich, denn schließlich könnte ein Kunde leicht stürzen. Also streut Meister Eder zur Enttäuschung der Kinder Sägespäne über die Bahn, damit die Rutschpartien ein Ende haben. Pumuckl ist wütend und entfernt die Späne mit einem Handschuh.

Nun kann er wieder rutschen, doch als er laut ruft, schaut Meister Eder aus dem Fenster, Pumuckl wird sichtbar - und prompt verletzt er sich bei einem Sturz am Daumen. Meister Eder legt ihm einen Verband an und die Schmerzen sind so gut wie weg. Problematisch ist aber, dass nun der weiße Verband sichtbar bleibt, wenn der Pumuckl auf den Hof geht. Und dort halten ein paar Kinder den weißen Stoff für ein Tier und verfolgen ihn ...

Das Parfümfläschchen:

Es ist kurz vor Heiligabend und Meister Eder freut sich auf den Besuch seiner Schwester. Er hat ihr ein kleines Holzkästchen geschnitzt und zusätzlich ein teures Parfüm besorgt, das auch dem Pumuckl sehr gefällt. Als die Zugehfrau Frau Eichinger Meister Eder um eine Schachtel für ein paar alte Gläser fragt, gibt er ihr die Parfümschachtel, da sie ohnehin zu groß für das Kästchen ist.

Pumuckl darf sich wegen seines braven Verhaltens ein paar Plätzchen aus der Küche holen. Dabei stößt er versehentlich die Parfümschachtel um - ohne zu ahnen, dass sich inzwischen nur noch ein altes Glas darin befindet.

Pumuckl hat schreckliche Angst, dass er das Parfüm kaputt gemacht hat. Er traut sich nicht, Meister Eder die Wahrheit zu sagen und will verhindern, dass er die Küche betritt und denkt sich allerlei Ablenkungsmanöver aus ...

Bewertung:

Der verstauchte Daumen hat einen etwas irreführenden Titel, denn Pumuckls Daumen ist wohl nur leicht aufgeschürft und nicht ernsthaft verletzt. Davon abgesehen ist die Geschichte spannend und sehr lehrreich für Kinder. Der seltsame, umher huschende Daumen wird von den Kindern im Hof für ein Tier gehalten, das in Stoff eingewickelt ist und dieses Rätsel wollen sie natürlich unbedingt lösen. Pumuckl flüchtet in einen Keller, aber es ist nur eine Frage von Zeit, bis die Kinder hinterherkommen - und sollten sie ihn tatsächlich fangen, wäre das eine Katastrophe. Witzig sind Meister Eders verzweifelte Versuche, die Kinder abzulenken: Einen Jungen, der vor dem Kellerfenster Wache hält, fordert er zum Wettrutschen auf der Eisbahn auf, was aber auf wenig Interesse stößt. Schließlich ist Eder so wütend, dass sich der Pumuckl durch eigene Schuld in so eine dumme Lage gebracht hat, dass er auf ihn schimpft. Der verwirrte Junge fragt nach, wen Eder denn eigentlich meint und erntet ein noch verwirrenderes "Niemand. Aber von mir aus soll er verhungern oder sonst was!" Amüsant ist auch Pumuckls übertriebene Wehleidigkeit, als ein Blutstropfen aus seinem Daumen fließt und er glatt fürchtet, dass Kobolde vielleicht nur diesen einen Tropfen im Körper besitzen.

Kinder lernen aus der Folge zum einen, dass es gewöhnlich besser ist, auf die Warnungen der Erwachsenen zu hören, denn Meister Eder hat genau dieses Szenario bereits vorausgesehen, aber Pumuckl wollte es nicht glauben. Zum anderen wird dezent auf die unschönen Nebenwirkungen einer Eisbahn hingewiesen und ein bisschen für Verständnis geworben, dass Erwachsene aus Sicherheitsgründen solche Eisbahnen an öffentlichen Orten manchmal leider zerstören müssen.

Die zweite Folge Das Parfümfläschchen hat einen ganz anderen Tenor. Es ist kurz vor Weihnachten und Pumuckl stellt gar nichts Schlimmes an - glaubt es aber, denn er fürchtet, das schöne Geschenk versehentlich zerstört zu haben. Stundenlang muss der kleine Kerl Ängste durchstehen, denn er traut sich natürlich nicht, dem Meister Eder von seinem Missgeschick zu erzählen; zu oft schon hat er etwas kaputt gemacht und dafür Ärger bekommen und er fürchtet, dass ihm nicht geglaubt wird, dass es diesmal wirklich nur ein Versehen war.

Der Pumuckl ist in seiner Verzweiflung sehr rührend und Kinder erleben hier eine schöne kleine Weihnachtsgeschichte, die sich ideal für die Einstimmung auf den Heiligen Abend eignet. Es ist trotz Pumuckls Ängsten zudem sehr amüsant, auf was für Ideen er kommt, um Meister Eder davon abzulenken, frühzeitig in die Wohnung zu gehen. Meister Eder sorgt sich schon bald um den ungewöhnlich hilfsbereiten Kobold, der lieber alle Utensilien aus der Küche herausschleppt, als Meister Eder auch nur einen Schritt hinein machen zu lassen. Witzig sind auch Pumuckls Bemerkungen zum Parfüm, das ihm sehr gut gefällt und das er zu gerne selbst tragen würde. Meister Eder hält das nicht wirklich für passend, schließlich handelt es sich um ein Damenparfüm, aber Pumuckl findet den Gedanken erheiternd, dass die Leute auf der Straße dann glauben werden, eine unsichtbare Dame gehe zwischen ihnen spazieren.

Die Kindersprecher überzeugen in ihren Rollen, ihre Texte klingen allesamt natürlich und nicht wie abgelesen - einzige Ausnahme ist das kollektive, zweimalige "Oooooh", als Eder die Eisbahn überstreut, das sich so theatralisch anhört, dass es schon wieder lustig ist. Eders Schwester wird von Marianne Brandt gesprochen, die in anderen Folgen auch schon mal Frau Eichinger sprach - diese wird hier wiederum von Erni Singerl dargestellt, die diese Rolle auch in der TV-Serie übernahm.

Fazit:

Zwei gute Folgen, die durch Spannung, lehrreiche Handlung und Witz überzeugen. Vor allem die zweite Folge ist sehr gelungen und besonders schön an Weihnachten, die erste Folge dagegen etwas dramatischer. Für Kinder auf alle Fälle eine Empfehlung, nicht nur zur Weihnachtszeit.

Sprechernamen:

Pumuckl: Hans Clarin
Meister Eder: Gustl Bayrhammer
Schwester Eders: Marianne Brandt
Frau Eichinger: Erni Singerl
Fritz: Flori Halm
Franz: J. Fischer
Peter: Martin Halm
Erzähler: August Riehl

8. Juli 2013

Benjamin Blümchen - Der Bananendieb

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* * * * *
Inhalt:

Benjamin und Otto gehen ins Kaufhaus - dort spielt nämlich heute der Drehorgelspieler "Kurbel-Klaus", dessen kleines Äffchen Ali Baba zu der Musik tanzt. Benjamin und Otto werden nicht enttäuscht, denn der nette Kurbel-Klaus macht wirklich schöne Musik, und das gewitzte Äffchen ist niedlich.

Leider endet der Spaß vorschnell: Der Leiter der Obst- und Gemüseabteilung und stellvertretende Kaufhausleiter Herr Gernegroß fühlt sich zum einen durch die Musik gestört und verdächtigt die beiden außerdem, dass sie nur stehlen wollen. Weder die empörten Kunden noch der nette Hausmeister Herr Sorgentreu können ihn umstimmen.

Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass aus der Obstabteilung einige Bananen verschwunden sind. Herr Gernegroß verdächtigt sofort das Äffchen Ali Baba. Als Beweis dienen ihm die Bananen in der Drehorgel - auch wenn Kurbel-Klaus beteuert, dass sie diese gestern geschenkt bekamen. Die Polizei steckt Ali Baba tatsächlich zunächst ins Gefängnis. Benjamin, Otto und Karla Kolumna sind von der Unschuld Ali Babas und Kurbel Klaus' überzeugt und wollen den wahren Bananendieb fangen ...

Bewertung:


Benjamin hat sich schon des Öfteren detektivisch betätigt, sei es, dass er mal ein verschwundenes Pandababy, einen Fröschedieb oder hier eben einen Bananendiebstahl im Visier hat. Die 96. Folge der Serie präsentiert sich als lehrreiches, ansonsten aber doch ziemlich durchschnittliches Hörspiel, das wahrlich nicht zu den besten der Reihe gehört.

Positiv sind auf alle Fälle die vermittelten moralischen Aspekte sowie die Sprecherbesetzung. Kurbel-Klaus und sein Äffchen Ali Baba gehören zum "Fahrenden Volk", und Herr Gernegroß hat eindeutige Vorurteile gegen die beiden - für ihn sind sie Vagabunden, die sicher bei jeder Gelegenheit stehlen. Natürlich ist dem Hörer von Anfang an mehr oder weniger klar, dass dies nicht der Fall ist, und die Geschichte vermittelt die Lehre, dass man niemanden vorschnell verdächtigen sollte. Das ist zwar nicht neu in der Serie, aber doch immer wieder eine gute Moral für Kinder, gerade wenn es um typische Vorurteile gibt, wie eben hier gegen Schausteller.

Bei der Sprecherbesetzung gibt es fast nur Highlights zu verzeichnen. Der erfahrene Hans Teuscher spricht sehr passend den liebenswerten Kurbel-Klaus und wird vielen Kindern auch als nicht weniger sympathischer Janosch aus einigen "Bibi und Tina"-Folgen bekannt sein. Die älteren Hörer kennen seine Stimme möglicherweise eher als Synchronstimme von Grandpa alias Al Lewis aus der Kult-Serie "The Munsters". Sven Plate spricht den sympathischen Hausmeister Herrn Sorgentreu, der sich aufgrund eines Krankenhausaufenthaltes seiner Frau für ein paar Tage allein mit seinen Drillingsbabys herumschlagen muss. Aktuell kennt man seine sehr weiche und jugendliche Stimme vor allem aus der Hörspielserie "Point Whitmark". Gerd Holtenau hat hier einen kleinen Auftritt als Kaufhausdirektor - ihn kennt man besonders als grantigen Mühlenhofbauer bei "Bibi und Tina". Kein Highlight ist dagegen Jürgen Kluckert als Benjamin, der nicht an Originalbenjaminsprecher Edgar Ott heranreicht, auch wenn er sich bemüht und nicht schlecht ist. Etwas nervig ist außerdem, dass das Äffchen deutlich hörbar von einem Menschen stimmlich dargestellt wird.

Auch wenn die Folge für Kinder gedacht ist, wäre eine etwas raffinierter angelegte Handlung schön gewesen. Wer der "Bananendieb" ist, wird nun wirklich jedes Kind gleich erahnen, wirkliche Spannung kommt also auch bei den jungen Hörern kaum auf. Das Potenzial, die Geschichte ein bisschen rätselhafter zu gestalten, wäre auf alle Fälle vorhanden, bleibt aber ungenutzt - stattdessen bekommt der Hörer alles auf dem Silbertablett serviert, was selbst Kinder unterfordert. Im Vergleich zu früheren Folgen zünden zudem die Witze nicht, sondern wirken recht gequält, und das leider auch schon gleich in den ersten Sätzen. Mehrfach fällt störend auf, dass Otto und Benjamin gleichzeitig sprechen - eine ziemlich alberne Marotte, die sich wie ein roter Faden durch die Folgen der letzten Jahre zieht.

Fazit:

Alles in allem eine zwar lehrreiche und mit guten Sprechern besetzte Folge, die aber weitaus spannender hätte sein können. Sehr durchschnittlich und gewiss keine Episode, die man gehört haben muss.

Sprechernamen:


Benjamin Blümchen: J. Kluckert
Otto: K. Primel
Karla Kolumna: G. Fritsch
Kurbelklaus: H. Teuscher
Äffchen Ali Baba: G. Schaale
Herr Sorgentreu: S. Plate
Frau Sorgentreu: H. Bartholomäus
Herr Gernegroß: H. Zorn
Kaufhausdirektor: G. Holtenau
Wachtmeister: J. Döring
Erzähler: G. Schoß

7. Juli 2013

Schatten - Andras

Produktinfos:

Ausgabe: 2008 in der Reihe "Heyne Hardcore"
Seiten: 590
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* * * * *

Der Autor:

Andras ist ein Frankfurter Schriftsteller, der den Namen "Andras" für dieses Werk als Pseudonym verwendet. Er bewegt sich seit mehreren Jahren in der BDSM-Szene und soll sich für manche Charaktere von den Lebensgeschichten wirklicher Personen inspirieren hat lassen.

Inhalt:

Ein Serienmörder treibt in Wien sein Unwesen. Seine Opfer sind junge Mädchen, die erst gekreuzigt und anschließend ausgepeitscht werden. Nach dem dritten Mord ist die Polizei sicher, dass der Täter aus dem Sado-Maso-Milieu stammen muss. Aus diesem Grund ziehen die Ermittler den ehemaligen Kriminalbeamten Marcus Wolf hinzu. Marcus arbeitete lange Jahre als Polizist, erst bei der Sitte und später bei der Mordkommission, ehe er vor sechs Jahren über Umwege den SM-Club "Dominion" und ein Edelbordell von seinem reichen Großonkel erbte. Marcus quittierte den Polizeidienst, leitet seitdem Club und Bordell und lebt mit seiner Frau Caro, der extrovertierten Amber und der zurückhaltenden Jacqueline in einer Viererbeziehung. Obwohl sein Ruf stark unter seiner neuen Tätigkeit gelitten hat, ist er zur Zusammenarbeit bereit.

Auch Marcus ist sich beim Anblick des Opfers sicher, dass der Mörder aus der SM-Szene stammt. Zu seiner Bestürzung stellt sich heraus, dass alle drei Opfer in seinem Club verkehrten. Als er dann auch noch erfährt, dass die Kreuzigungsszene vor neun Jahren exakt auf die gleiche Art in seinem Club gespielt wurde, steht fest, dass der Mörder damals unter den Zuschauern war - und vermutlich auch heute noch zu Marcus' Kunden gehört.

Marcus nutzt seine zahlreichen Kontakte in der SM-Szene und der Halbwelt für die Ermittlungen. Die Zeitungen überschlagen sich mit Skandalmeldungen über seinen Club und kurzzeitig wird er sogar als Täter verdächtigt. Einer seiner Mitarbeiter wird erschossen aufgefunden - angeblich Selbstmord. Marcus ahnt, dass er dem Mörder näher steht als er dachte und dass er plötzlich auch um seine eigene Sicherheit fürchten muss ...

Bittersüß


Mörderjagd im Sadomaso-Milieu, das bedeutet zu Recht ein "Hardcore"-Prädikat vom Heyne-Verlag, da mit expliziten Schilderungen in Sachen Sex und Gewalt nicht gespart wird. Wer sich davon allerdings nicht abschrecken lässt, bekommt darüber hinaus noch einen spannenden Thriller geliefert, der keineswegs der oberflächliche Softporno ist, den man vermuten mag.

Interessante Charaktere

Im Mittelpunkt steht Ich-Erzähler Marcus Wolf, ein Mann mit augenscheinlich vielen Facetten. Marcus ist ehemaliger Kriminalbeamter, der auch Jahre danach nichts von seinem Spürsinn verloren hat, ein schwergewichtiger Zweimeterhüne, der für seine drei Frauen dominanter Herr, liebevoller Partner und zuverlässiger Freund zugleich ist. Caroline ist seine Ehefrau und Managerin, studierte Juristin aus steinreicher, alteingesessener Wiener Familie, die ein inniges Verhältnis zu ihrer Uroma besitzt, während der Kontakt mit ihrem Vater aufgrund ihrer Lebensweise abgebrochen ist. Gemeinsam mit dem Chateau übernahm Marcus auch die beiden jungen Frauen Amber und Jacqueline, die wohl die bemerkenswertesten Figuren sind. Die offensive Amber, zierliche 1,50 Meter groß und die ruhige, hingebungsvolle Jacqueline gehörten zu den Kindern, die Marcus' Großonkel im Chateau gefangen hielt und regelmäßig von Kunden benutzen ließ. Als Elfjährige bereits zum Sex gezwungen, werden sie von Marcus als junge Frauen in eine Therapie geschickt, die jedoch nichts daran ändert, dass sie sich zu devoten Sexspielen hingezogen fühlen und das Chateau als Zuhause empfinden.

Die anfangs unrealistisch harmonische anmutende Viererbeziehung wird im weiteren Verlauf differenzierter dargestellt. Die beinah grenzenlose Liebe und Hingabe, die ihm die drei Frauen entgegen bringen, verunsichert Marcus bisweilen. Obwohl er weiß, dass Amber und Jacqueline freiwillig bei ihm leben und seine Quälereien genießen, fühlt er ein schlechtes Gewissen, da er sich unweigerlich mit seinem perversen Onkel vergleicht, der die Mädchen schonungslos ausbeutete. Auch die offene Beziehung ist nicht immer ungetrübt. Amber und Jacqueline fühlen sich zeitweise zurückgesetzt, da Marcus mit seiner Frau Caro die meiste Zeit verbringt und Caro wiederum zeigt eifersüchtige Regungen, wenn den beiden anderen mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Damit bleibt das Verhältnis immer noch mehr als ungewöhnlich und gewöhnungsbedürftig, wird aber erfreulicherweise nicht als völlig unkompliziert hingestellt. Bei aller Innigkeit bleibt noch Raum für kleine Spannungen, (Selbst-)Zweifel und Schwierigkeiten, die dieser Konstellation zumindest bis zu einem gewissen Grad Realismus verleihen.

Eine interessante Nebenfigur ist außerdem Sergei, früher Major bei der Armee, heute offiziell Geschäftsmann und inoffiziell Mitglied der russischen Mafia. Gegen jährliche Abzahlungen hält sich Marcus Probleme mit der Russenmafia vom Hals, während Sergei im Gegenzug kleinen Gefälligkeiten leistet und auch bei der Suche nach dem Mörder behilflich ist, wobei sich schließlich sogar herausstellt, dass er auch ein persönliches Interesse verfolgt. Marcus verbindet ein zwiespältiges Verhältnis mit Sergei, mit dem er nie Ärger hatte, den er aufgrund seiner Machenschaften aber auch nicht als Freund sehen kann. Trotz der eingehaltenen Distanz findet Marcus Sergei beinah wider Willen sympathisch, zumal Sergei kein gewissenloser Mörder ist, sondern, auch als Mafioso, bestimmte Grenzen nicht überschreitet.

Spannende Mörderjagd


Bis kurz vor Schluss bleibt die Handlung weitgehend temporeich und durchweg spannend. Schon auf den ersten Seiten wird der Leser mit dem dritten Mordopfer konfrontiert. Das tote Mädchen, dessen Augen dem Mörder bis zum Schluss verächtlich entgegen blickten, verursacht beim Leser gleichsam wie bei Marcus Wolf ein unwohles Gefühl. Brisant wird es, als sich herausstellt, dass der Mörder in irgendeiner Form in Verbindung mit dem "Dominion" stehen muss und sich Marcus von allen Seiten bedroht fühlt. Bereits zu Zeiten von Marcus' Großonkel ist der Täter offenbar im Chateau ein- und ausgegangen und der Verdacht erhärtet sich, dass Marcus ihm bereits persönlich begegnet ist. Weitere Morde geschehen, Marcus selbst steht unter Verdacht und die Zeit läuft ab, denn in wenigen Tagen wird das nächste Mädchen getötet, wenn Marcus und seine Freunde nicht rechtzeitig die Lösung finden. Der Leser entlarvt den Täter aufgrund von Hinweisen leicht etwas früher als die offizielle Enthüllung, doch das ist kein großes Manko, denn selbst als Marcus und seine Leute von seiner Identität überzeugt sind, fehlt ihnen der Beweis, um ihn zu überführen.

Einblicke ins Milieu

Man muss kein praktizierender BDSMler sein, um das Buch gerne zu lesen, doch wer sich von exotischen Erotiknuancen abgestoßen fühlt, wird bei der Lektüre sicher nicht glücklich - zumindest eine gewisse Affinität für die härteren Spielarten abseits von Vanilla-Sex sollte ruhig gegeben sein. Vor allem im ersten Viertel nehmen die sexuellen Schilderungen teils ein wenig überhand und die zu perfekte Abstimmung der jeweiligen Personen aufeinander ruft in ihrer makellosen Harmonie leichte Langeweile hervor. Es fließen jedoch auch viele Erklärungen des Ich-Erzählers ein, der einem die Welt der Sadomasochisten ein wenig näher bringt. Gerade weil Marcus Wolf kein klassischer Sadist ist, sondern Hemmungen kennt und sich manchmal von seinen Frauen überhaupt erst überreden lassen muss, bestimmte Dinge zuzulassen, versteht man die Faszination, die er beschreibt, selbst wenn man sie nicht teilen sollte. Im "Dominion" begegnet man den Grenzbereichen des BDSM mit Auspeitschungen, Sklaven mit Halsbändern, Ganzkörperkostümen, stolzen Doms mit ihren unterwürfigen Subs. Die Schilderungen sind ausschweifend, aber nicht obszön, vielleicht für viele Leser befremdlich, aber nicht pervers.

Kleine Schwächen

Im Verhältnis zwischen Marcus und seinem ehemaligen Kollegen Malowsky liegt eine Menge ungenutztes Potential. Ihre einstige Freundschaft wandelte sich in Feindschaft, die auch noch Bestand hat, als sie sich jetzt angesichts der Mordserie wiedersehen. Nachdem sie gezwungenermaßen zusammenarbeiten müssen, blüht die alte Verbundenheit wieder auf - und zwar rascher, als angebracht wäre. Zu schnell söhnen sich die beiden wieder aus, reizvoller wäre aber gewesen, die Zwietracht noch etwas auszubauen und erst gegen Ende abzulegen.

Etwas ärgerlich sind die konstruierten Verhältnisse um Caro und ihre Familie. Nicht nur, dass sie aus einer millionenschweren Familie stammt, was der Skandal-Presse, die Marcus und das "Dominion" umlagert, seltsamerweise verborgen geblieben ist, ihre geliebte "Uomi", wie sie genannt wird, ist eine 118-jährige Dame, die gut ein paar Jahrzehnte jünger wirkt und das Chateau mit all seinen Lustspielchen noch aus den Gründertagen kennt. So liebenswert die "Madame", wie Marcus sie ehrfürchtig nennt, auch geschildert wird - ihr methusalem'sches Alter bei gleichzeitig fast jugendlicher Wachheit ist doch arg übertrieben. Ähnliches gilt auch für die Versöhnung zwischen Caro und ihrem Vater, die zu plötzlich herbeigeführt wird. Bei den Ermittlungen ist es ein wenig schade, dass den Löwenanteil der Täter-Identifizierung ein ausgeklügeltes Computer-System und Kommissar Zufall erledigen und Marcus nicht so sehr durch Recherche auf den Mörder kommt.

Fazit:


Ein spannungsgeladener Thriller, der in der Wiener BDSM-Szene spielt und mit interessanten Einblicken in das Milieu aufwarten kann. Wer sich nicht an recht expliziten Schilderungen von Sex und Gewalt stört, wird gewisser Schwächen gut unterhalten. Auch wenn darüber bisher nichts zu hören ist, wären weitere Werke mit Marcus Wolf in der Hauptrolle durchaus willkommen.

4. Juli 2013

Das Herz des Bösen - Joy Fielding

Produktinfos:

Ausgabe: 2012
Seiten: 384
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* * * * *

Die Autorin:

Joy Fielding, geboren 1945 in Toronto, Kanada, hatte bereits in ihrer Kindheit großes Interesse am Schreiben. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin studierte sie englische Literatur und arbeitete eine Weile als Schauspielerin. 1991 gelang ihr mit dem Roman "Lauf Jane, lauf" der internationale Durchbruch. Seitdem landen ihre Frauenthriller regelmäßig auf den Spitzenpositionen der Bestsellerlisten. Weitere Werke sind u. a. "Sag Mammi goodbye", "Ein mörderischer Sommer", "Schlaf nicht, wenn es dunkel wird" und "Tanz Püppchen, tanz".

Inhalt:

Valerie Rowes Leben ist gerade alles andere als leicht: Erst erwischt sie ihren Mann Evan mit dessen Affäre im eigenen Ehebett, dann häufen sich die Konfrontationen mit ihrer sechzehnjährigen Tochter Brianne. Auch das Verhältnis zu ihrer alkoholkranken Mutter ist belastend.

Als Brianne mit ihrem Vater und dessen neuer Freundin Jennifer - der ehemaligen Affäre - einen Wochenendurlaub in der Wildnis verbringen soll, kommt es zu einer äußerst absurden Situation: Valerie, begleitet von ihren besten Freunden James und Melissa, wollte eigentlich nur Brianne und Evans Freundin Jennifer zum Hotel bringen. Durch unglückliche Umstände aber verspätet sich Evan, Val ist nicht mehr fahrtüchtig und so müssen alle zunächst gemeinsam in der Suite des Luxushotels übernachten; am nächsten Tag kommt es gar zu einem Umzug auf einen Campingplatz.

Valerie versucht, aus der vertrackten Situation das Beste zu machen und sich gegenüber ihrer einstigen Rivalin Jennifer friedfertig zu verhalten. Sie ahnt nicht, dass das wahre Grauen noch bevorsteht: Ganz in der Nähe ereignet sich eine Mordserie, die schon bald auch ihren Weg kreuzen wird ...

Bewertung:

Für innovative Thriller ist Joy Fielding nicht gerade bekannt - auch "Das Herz des Bösen" greift auf Versatzstücke zurück, die in mehreren Büchern der Autorin zu finden sind: Die verlassene Ehefrau mittleren Alters, der Ehemann, der Affären mit jungen Frauen im Model-Look sucht, der schwierige halbwüchsige Teenager und das komplizierte Verhältnis zur Mutter der Protagonistin sind einige der üblichen Zutaten, auf die auch hier nicht verzichtet wird. Das Ergebnis ist ein lesbarer, aber gewiss nicht überdurchschnittlicher Thriller, der aus Fieldings Schaffen nicht heraussticht.

Die Protagonistin Val Rowe ist nicht unsympathisch, die Ausgangslage nicht uninteressant - schließlich wird man nicht alle Tage mit Ex-Affäre und jetzigen Freundin des Noch-Mannes zusammengepfercht und es ist phasenweise recht reizvoll, diese Konstellation zu beobachten. Weder für Val noch für "Rivalin" Jennifer ist dies eine angenehme Situation, die beide mit Anstand meistern wollen - kein Catfight ist angesagt, allerdings kann sich Val verständlicherweise die eine oder andere Spitze nicht verkneifen. Grundsätzlich sympathisch sind auch Vals beste Freunde Melissa und James, der zickigen Brianne sieht man ihre Pubertätslaunen halbwegs nach und schließlich zeigt auch Jennifer positive Züge, sodass man keiner der Figuren wünscht, den Mördern in die Hände zu fallen. Hin und wieder ist die Handlung auch recht witzig, vor allem wenn Val oder ihre Freunde eine spitze Bemerkung gegenüber Jennifer fallen lassen. Wie alle Werke Joy Fieldings liest sich auch "Das Herz des Bösen" extrem leicht und es braucht wahrlich keine besondere Konzentration, um den Geschehnissen zu folgen - so ist das Buch durchaus als anspruchslose Strand-, Zug- oder Bettlektüre zu gebrauchen, wenn zwar der Wunsch nach Lesen vorhanden ist, aber der Geist gerade eher müde.

Die Schwachpunkte überwiegen allerdings und sind ein ums andere Mal ziemlich ärgerlich. Auch Val ist leider eine jener Protagonistinnen Joy Fieldings, die sich nicht oder nur schwer von dem Mann lösen können, der sie pausenlos nach Strich und Faden belogen und betrogen hat. Vals Noch-Ehemann Evan wirkt von der ersten Erwähnung an unsympathisch (und bleibt es bis zum Schluss) und umso schwerer ist es, nachzuvollziehen, dass Val immer noch so sehr an ihm hängt. Ja, es ist schwer, eine langjährige Ehe zu beenden und ja, es gibt diesen Typ Mann, der mit Charme und gutem Aussehen seine Fehler schnell wieder vergessen macht - aber wenn man wie Val den Ehemann dabei überrascht, wie er ungerührt im eigenen Ehebett eine langbeinige Blondine vögelt, sollte man doch endlich mal den Schlussstrich ziehen. Dass Val immer noch so abhängig ist und vermutlich ein Wort Evans genügen würde, um sie zurückzubekommen, macht einen ärgerlich - nachvollziehbare psychologische Gründe mag es dafür geben, offensichtlich werden sie hier allerdings nicht. Zudem wäre es wirklich mal zur Abwechslung nett, wenn die Ehemänner bei Joy Fielding sich nicht immer mit topgestylten Frauen, die ihre Töchter sein könnten, einließen - und selbst vielleicht auch mal ein anderer Typ wären als der beruflich höchst erfolgreiche, gutaussehende und charmante Anwalt/Geschäftsmann, der einem langsam aber sicher auf die Nerven geht.

Ein weiterer Punkt ist das äußerst blasse Täter-Duo, dem jegliches Charisma fehlt. Die beiden Mörder sind dem Leser von Anfang an bekannt; wer einen Who-Dunnit-Krimi erwartet, wird also ohnehin enttäuscht. Von interessanten Serienmördern à la dem wunderbaren Hannibal Lecter und Konsorten sind diese beiden Figuren jedoch Lichtjahre entfernt - einfach zwei belanglose Figuren, natürlich mit der obligatorischen schlechten Kindheit, die in Auszügen klischeehaft angerissen wird.

Die Handlung wird mehrfach deutlich vom Zufall gelenkt und ist nicht gerade realistisch inszeniert, erst recht, was das dramatische Finale betrifft. Ganz witzig, aber ebenfalls realitätsfern ist das nächtliche Gespräch, das sich zwischen Val, Tochter Brianne, Jennifer, James und Melissa in der gemeinsamen Suite ergibt, das eher Slapstick-Charakter besitzt: Jennifers versehentlich halblaut gemurmelte Gedanken bringen Brianne dazu, sie anzusprechen, woraufhin sich die gereizte Val einmischt; es ergibt sich eine Diskussion, ob Val schnarcht oder nicht und schließlich meldet sich noch James aus dem Nebenraum, der Angst hat, etwas Interessantes zu verpassen. Überhaupt ist das Verhalten der Figuren oftmals zu sehr an den Haaren herbeigezogen - sei es die permanente gute Laune, die James, selbsternannter "Klischee-Schwuler" mit Hang zu Musicals, die er auch gerne mal zu schmettern beginnt, versprüht, seien es Briannes übertrieben rebellische Aktionen, die geradezu herausfordern, dass sie dabei auf die Nase fällt, was natürlich prompt geschieht.

Fazit:

Sehr durchschnittlicher Thriller mit ein paar interessanten Ansätzen, der sich aber in Klischees und unrealistischen Szenarien verliert. Nicht ganz schlecht und durchaus lesbar, solange keine anspruchsvolle Lektüre erwartet wird.