15. Juni 2012

Was die Toten wissen - Laura Lippman

Produktinfos:

Ausgabe: 2009
Seiten: 407
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Die Autorin:

Laura Lippman wuchs in Baltimore auf und arbeitete zunächst mehr als zehn Jahre lang als Journalistin, ehe sie sich dem Schreiben von Krimis und Thrillern widmete. Für ihre Werke erhielt sie bereits zahlreiche Preise wie den Edgar Allan Poe Award und den Agatha Award. Besonders populär ist ihre Reihe um die Privatdetektivin und Journalistin Tess Monaghan.

Inhalt:


Frühjahr 1975 in Baltimore: Die beiden Schwester Heather und Sunny Bethany, zwölf und fünfzehn Jahre alt, dürfen den Samstagnachmittag in der Shoppingmall einkaufen und ins Kino gehen. Ihr Vater will sie später am Parkplatz abholen - doch die Mädchen erscheinen nie. Heathers Tasche wird gefunden, einmal gibt es einen vermutlich nicht ernst gemeinten Lösegeldanruf, doch ansonsten laufen alle Ermittlungen ins Leere. Die Eltern trennen sich im Jahr darauf, die Mädchen werden für tot gehalten, die Suche eingestellt.

Dreißig Jahre später: Eine Frau Mitte vierzig wird in einen Autounfall verwickelt. Bei der Befragung am Unfallort erklärt sie dem jungen Detective Infante, ihr Name sei Heather Bethany, die jüngere der damals verschwundenen Bethany-Schwestern. Ihr Wagen ist allerdings auf eine Penelope Jackson zugelassen und auch sonst wirft die Unbekannte große Rätsel auf. Im Krankenhaus schweigt sie und gibt nur nach und nach Bruchstücke über ihr Leben preis.

Die Sozialarbeiterin Kay wird hingezogen, um mit der angeblichen Heather zu sprechen. Die unbekannte Frau deutet an, dass sie bis zur Volljährigkeit bei ihrem Entführer lebte und ihre Schwester von ihm umgebracht wurde. Sie kennt zahlreiche Details aus dem Leben der Bethanys und aus Baltimore City der siebziger Jahre, trotzdem ist vor allem Detective Infante misstrauisch, ob sie wirklich Heather ist. Zumindest steht fest, dass sie etwas über die Entführung wissen muss ...

Bewertung:


Laura Lippmans Thriller ist nicht allein der Phantasie der Autorin entsprungen, sondern basiert auf einer wahren Begebenheit: 1975 verschwanden in Baltimore Sheila und Katherine Lyon, kurz die Lyon-Sisters genannt und wurden bis heute nicht mehr gesehen. Verdächtige hat es in ihrem Fall zwar durchaus gegeben, doch handfeste Beweise hat es nie gegeben, auch nicht für ihren Tod. Dieses rätselhafte Kidnapping bildet die lose Basis - sehr lose, denn alle Beschreibungen der Familie sind fiktiv und haben nicht mit den Lyons gemeinsam - für diesen Roman, in der aus den Lyon-Schwestern die Bethany-Schwestern werden und in denen eine von ihnen nach dreißig Jahren wieder auftaucht - oder auch nicht? Laura Lippman gelingt es, den Leser sofort in die Handlung hineinzuziehen und zu fesseln, auch wenn es drei Handlungsstränge sind, die sich immer wieder abwechseln und die Aufmerksamkeit fordern.

Zum einen gibt es die Geschehnisse in der Gegenwart, in der die angebliche Heather von Polizei, von der Staranwältin Gloria Bustamente und von der Sozialarbeiterin Kay befragt wird und nur sehr langsam Details aus ihrer Vergangenheit preis gibt. Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, allerdings ist es nicht so leicht, herauszufinden, ob sie wirklich die vermisste Heather Bethany ist. Da ihr Vater wegen seiner alternativen Einstellung auf Arztbesuche mit den Mädchen weitgehend verzichtete, existieren nur sehr alte zahnärztliche Röntgenaufnahmen, die nicht unbedingt aussagekräftig sind. Die sicherste Methode ist der DNA-Abgleich mit Verwandten, allerdings ist der Vater der Mädchen bereits verstorben und die Mutter muss in Mexiko gesucht werden - und als sie gefunden wird, erfahren die Ermittler erst, dass die Mädchen adoptiert waren. Das Misstrauen des Detectives ist verständlich und auch der Leser fiebert der Aufklärung entgegen, ob "Heather" wirklich die ist, für die sie sich ausgibt - aber auch, was sie über all die Jahre erlebt hat und ob der Entführer und Sunnys Mörder noch gefasst werden kann, sollte die Frau die Wahrheit erzählen. Durch die regelmäßigen Rückblicke wird dieser Strang immer wieder aufgehalten und unterbrochen, was die Spannung zusätzlich erhöht.

Ein zweiter Handlungsstrang führt den Leser weit in die Vergangenheit und erzählt vom Leben der Schwestern bis zu ihrer Entführung. Ein dritter Strang springt in die unmittelbare Zeit danach und konzentriert sich vor allem auf Dave und Miriam Bethany, die Eltern der Mädchen. Die Schilderung dieser Familie ist reizvoll und zeigt ihre liebenswerten Momente ebenso wie ihre Schwächen: Vater Dave hat den Ruf eines Hippies und führt ein wenig erfolgreiches Geschäft, da ihm Verhandlungsgeschick und Gespür abgehen. Mutter Miriam hat eine Affäre mit ihrem verheirateten Chef und es ist nach dem Verschwinden der Mädchen nur noch eine Frage der Zeit, bis ihre Ehe endgültig zerbricht. Pikanterweise bleiben bei Dave neben der Enttäuschung über ihren Betrug auch nicht die Gedanken aus, dass Miriam indirekt Schuld am Verschwinden der Mädchen trägt - er hält es für möglich, dass ihr Liebhaber und dessen eifersüchtige Frau in das Verbrechen verwickelt sind, er wirft Miriam vor, dass sie zur Zeit des Kidnappings sich gerade mit ihrem Chef in einem Motel vergnügte, er zieht auch in Betracht, dass ihn der Verdacht von Miriams Untreue so sehr ablenkte, dass er den Mädchen fahrlässig zu viele Freiheiten an diesem Nachmittag erlaubte und sie mit klarem Kopf nicht hätte gehen lassen.

In dieser nach außen so glücklichen Familie gibt es eine Menge Spannungen, bereits vor dem verschwinden der Mädchen. Heather ist die jüngere der Schwestern, aber auch die clevere, die sich mit Spontanität, Schlagfertigkeit und Charme gut im Leben behauptet. Sunny ist oft genervt von der Anhänglichkeit Heathers und nicht selten neidisch, dass der kleinen Schwester mit weniger Aufwand einige Dinge besser gelingen. Es hat seinen Reiz, dass es keine scheinbar perfekte und äußerst harmonische Familie ist, über die das Unglück hinein bricht, sondern eine Familie, die mit Problemen zu kämpfen hat und die anschließend nicht einmal aus dem Zusammenhalt Kraft schöpfen kann. Nebenfiguren wie die Sozialarbeiterin Kay oder Detective Infante kommen vielleicht ein bisschen zu blass daher, es sind durchaus interessante Figuren, über die man aber nicht viel erfährt - doch sie müssen auch nicht wirklich tiefer ausgearbeitet werden, dafür ist ihre Rolle in der Handlung nicht groß genug.

Umso gelungener ist die Darstellung der Bethany-Familie, neben den Mädchen vor allem Mutter Miriam, die aus ihrem Schicksal das Beste zu machen versucht hat und sich jetzt mit achtundsechzig der Wahrheit stellen muss. Gut gelöst ist auch die Rolle des ehemaligen Ermittlers Chet Willoughby, einst ein Freund der Familie, der jetzt wieder hingezogen wird und der auch nach all den Jahren nicht seine Bewunderung für Miriam verhehlen kann. Der Roman ist bis zum Schluss undurchsichtig und damit fesselnd und auch wenn man das eine oder andere Mal eine gewisse Ahnung zu haben meint, kommt das Ende dann doch überraschend - und dennoch ist es logisch, zwar anders als erwartet, aber es fügen sich alle früheren Andeutungen zusammen. Befriedigung über den Ausgang und etwas Melancholie liegen eng beieinander, auch das ist sehr stimmig und sehr realistisch gestaltet.

Fazit:

Ein sehr spannender Roman über die Entführung zweier Mädchen, der sich ganz lose an eine wahre Begebenheit anlehnt und nach vielen Verwirrungen eine sehr plausible und überraschende Lösung präsentiert. Psychologisch ausgefeilt und mit überzeugenden Hauptfiguren, einzig die Zeitsprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die etwas zu sehr im Hintergrund agierenden Nebenfiguren können als kleine Mankos auffallen.

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