30. Juni 2012

Schuld - Ferdinand von Schirach

Produktinfos:

Ausgabe: 2010
Seiten: 208
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Der Autor:

Ferdinand von Schirach, geboren 1964 und Enkel des ehemaligen NS-Reichsjugendführer Baldur von Schirach, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt für Strafrecht. 2009 brachte er seinen ersten Band "Verbrechen" mit Erzählungen ungewöhnlicher Fälle aus seinem Berufsleben heraus.

Inhalt:

Volksfest: Es ist ein heißer Augusttag in einer Kleinstadt. Die Bürger feiern ausgiebig ihr Volksfest. Ein siebzehnjähriges Mädchen verdient sich als Kellnerin ein Taschengeld. Als die Männer der Blaskapelle auf die hübsche junge Frau aufmerksam werden, geschieht etwas Furchtbares ...

DNA: Das junge Pärchen Nina und Thomas lebt in zerrütteten Verhältnissen. An Heiligabend lädt sie ein älterer Mann zu sich nach Hause ein, angeblich will er nicht allein sein. Als er Nina im Badezimmer belästigt und Thomas ihr zu Hilfe eilt, kommt es zu einem tödlichen Unfall. Die beiden flüchten, der Fall bleibt rätselhaft. Neunzehn Jahre später aber können die DNA-Spuren verwertet werden ...

Die Illuminaten: Henry ist ein schüchterner, unglücklicher Junge. Im Internat hat er nur einen einzigen Freund, seine Eltern üben Druck aus, er ist ein mittelmäßiger Schüler. Das Zeichnen ist allerdings sein großes Talent, das eine alte Lehrerin entdeckt und fördert. Henrys Klassenkameraden wollen unterdessen dem Geheimorden der Illuminaten nacheifern. Henry soll ihr Opfer werden, das sie durch Folter reinigen wollen ...

Kinder: Die Holbrechts sind ein glückliches junges Paar, er Vertreter, sie Grundschullehrerin. Kinder haben sie noch keine, wünschen sich in der Zukunft aber welche. Da beschuldigt eine Schülerin der jungen Frau ihren Mann des Missbrauchs, ihre Freundin bestätigt sie. Holbrecht beteuert seine Unschuld, wird aber zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, seine Frau lässt sich scheiden. Jahre später trifft er die mittlerweile junge Frau wieder ...

Anatomie: Ein junger Mann wartet im Auto auf eine Frau. Sie hat ihm einen Korb gegeben, dafür soll sie büßen. Schon lange hat er sich an Tieren geübt, nun sollen seine Phantasien endlich an einem Menschen Wirklichkeit werden. Alle Gerätschaften sind vorbereitet, jetzt fehlt nur noch sie ...

Der Andere: Das Ehepaar Paulsberg, mittleren Alters, ist wohlhabend, er ein großer Unternehmer, sie eine erfolgreiche Anwältin. Ein Vorfall bei einem Saunabesuch lässt sie ihre Swingerneigungen erkennen. Ihre Ehe erfährt einen Aufwind, als sie sich regelmäßig andere Männer dazu holen. Doch bei einem Mann verspürt Paulsberg plötzlich heftige Eifersucht ...

Der Koffer:
Bei einer routinemäßigen Autokontrolle entdeckt eine Polizistin bei einem polnischen Fahrer einen Koffer. Der Inhalt: Achtzehn Farbfotokopien von gepfählten Männer- und Frauenleichen. Der polnische Fahrer beteuert, von den Fotos nichts zu wissen - er sei bloß angeheuert worden, im Auftrag eines Geschäftsmannes den Koffer nach Deutschland zu bringen, wo er abgeholt werden soll ...

Verlangen: Sie ist Ehefrau und Mutter, dazu noch wohlhabend, aber sie fühlt sich dennoch leer. Aus einem zwanghaften Verlangen heraus wird sie zur Ladendiebin. Die gestohlenen Gegenstände wirft sie gleich danach weg. Eines Tages wird sie ertappt ...

Schnee:
Ein alter Mann, arbeitslos, verwahrlost und mit einem Alkoholproblem, stellt dem Drogendealer Hassan regelmäßig für Geld seine Küche für Drogengeschäfte zur Verfügung. Die Polizei verhaftet ihn, die Dealer sind allerdings gerade nicht da und er verweigert die Aussage - Hassans schwangere Freundin Jana soll ihr Kind nicht allein bekommen ...

Der Schlüssel:
Frank und sein ziemlich unterbelichteter aber äußerst muskulöser Freund Atris schließen einen Deal um Designerdrogen mit einem Russen ab. Für 250.000 Euro bekommen die beiden Freunde die Pillen. Während Frank das Geschäft in Amsterdam klarmacht, soll Atris zuhause auf Franks Dogge aufpassen. Unglücklicherweise verschlingt der Hund den Schlüssel zu dem Schließfach, in dem sich das Geld befindet ...

Einsam:
Die vierzehnjährige Larissa wird von ihren Eltern vernachlässigt. Als sie wieder einmal allein zuhause ist, kommt Lackner, ein Nachbar und Freund des Vaters, vorbei. Er zerrt das Mädchen in seine Wohnung und vergewaltigt es. Larissa verheimlicht die Vergewaltigung und ignoriert ihre Schwangerschaft - bis das Kind auf der Toilette zur Welt kommt ...

Justiz: Ein Rechtsanwalt wird mit dem Fall des Häftlings Harkan Turan aus Berlin-Moabit beauftragt. Turan wird beschuldigt, beim Ausführen seines Pitbulls einen Mann zusammengeschlagen zu haben. Turan hat aber weder einen Hund noch ist der körperlich dazu in der Lage und beteuert seine Unschuld ...

Ausgleich: Alexandra ist anfangs glücklich in ihrer Ehe mit Thomas - doch schon früh beginnt er sie zu schlagen. Die Misshandlungen führen bis zu Knochenbrüchen, Alexandra muss auf dem Fußboden schlafen. Der freundliche Nachbar Felix ist neben ihrer kleinen Tochter ihr einziger Trost. Felix bedrängt sie, ihren gewalttätigen Mann zu verlassen, doch sie fürchtet um ihre Tochter ...

Geheimnisse: Immer wieder besucht der paranoide Kalkmann die Anwaltskanzlei. er behauptet, er werde von der CIA und vom BKA verfolgt. Beim Optiker habe man ihm schließlich eine Kamera ins Auge montiert. Irgendwann beschließt der Anwalt, ihn zum psychiatrischen Notdienst zu bringen ...

Bewertung:


Ferdinand von Schirach präsentiert nach seinem ersten Band "Verbrechen" erneut wahre Geschichten aus seiner Anwaltszeit. "Wahr" insofern, als dass alle Motive sich so ereignet haben und alle Geschehnisse und Personen in von Schirachs Karriere auftauchten, wenn er die Dinge auch manchmal ein bisschen frei zusammenfügt, wie er in einem Interview erklärte. Der Kern der Geschichten hat sich demnach also so zugetragen, wenngleich gewisse Ausschmückungen, vor allem was Gedankengänge angeht, wohl auf von Schirachs Konto gehen. Gemeinsam haben sie alle, dass sie sich um "Schuld" drehen - um die Schuld von Tätern, die Schuld von Zeugen, von vermeintlichen Opfern aber auch um Schuldgefühle von Schirach und seinen Anwaltskollegen selbst.

Volksfest setzt gleich einen Paukenschlag den den Anfang des Bandes - denn hier geschieht ein Verbrechen, bei dem alle neun Angeklagten straffrei davonkommen. Die junge Frau wird mehrfach vergewaltigt und brutal zusammengeschlagen, Zeugen aber gibt es keine, wegen der Maskierungen kann sie ihre Peiniger nicht identifizieren, die Spurensicherung schlampt. Für von Schirach ist die Verteidigung dieser Männer trotz des Erfolgs keine Ruhmestat und man spürt in den knappen Zeilen, wie sehr solche Fälle einen Rechtsbeistand auf die Probe stellen. DNA ist ein Beispiel dafür, dass einen die Vergangenheit auch noch nach vielen Jahren einholen kann. Die fortschreitenden Entwicklungen der Wissenschaft lassen manches fast vergessenes Verbrechen aufklären. Gleichzeitig ist es eine berührende Geschichte von einem Paar, das wider Willen in einen Todesfall verwickelt wird. Die Illuminaten weckt Assoziationen zu Robert Musils "Verwirrungen des Zöglings Törleß" - jugendliche Internatsschüler, die einen Kameraden regelmäßig körperlich und seelisch quälen. Henrys Schicksal ist tieftraurig, ein von fast allen übersehener Junge, der sich Aufnahme in die dubiose Gemeinschaft der Möchtegernilluminaten wünscht. Alles endet in einem schrecklichen Zwischenfall, der so zwar nicht gewollt war, aber dennoch hätte verhindert werden können und müssen.

Kinder beginnt wie ein Missbrauchsfall, dem man fast täglich in den Medien begegnet; der treusorgende Ehemann, der scheinbar als pädophiler Verbrecher entlarvt wird. Die Geschichte endet aber nicht mit seiner Haftstrafe, sondern fängt da erst richtig an, alles entwickelt sich ein bisschen anders als gedacht und man sieht mal die Seite eines "etwas andere" Opfers. In Anatomie geht das Schicksal einen ganz eigenen Weg, zurück bleibt ein perplexer Leser, er erst einmal verdauen muss, was er da gelesen hat. Hauptperson in der Geschichte ist ein junger Mann mit ausgeprägter psychopathischer Veranlagung. Während er darüber sinniert, wie er schon Vögel, Katzen und Hunde zu Tode gequält hat, freut er sich auf die junge Frau, an der er sein Sezierbesteck ausgiebig testen will. Keine vollen vier Seiten umfasst die Geschichte und doch steckt in ihr so viel Spannung wie in manchem Thriller. Der Andere ist zunächst einmal eine interessante Geschichte über ein Ehepaar, das sich nach langer Ehe zum Swingen entschließt und damit zunächst glücklich ist - doch dann gehen dem Ehemann doch die Gefühle durch. Die zweite Hälfte der Handlung offenbart die Fallstricke der Justiz und zeigt, wie ein solch überraschendes Urteil auf rechtmäßige Weise zustande kommen kann.

Der Koffer gehört sicherlich zu den schockierendsten Beiträgen. Nur durch einen Zufall werden die Fotos von höchstwahrscheinlich echten Leichen entdeckt, die so grausam sind, dass sich die Polizeibeamtin direkt vor Ort übergeben muss. Der polnische Fahrer gibt sich höflich und freundlich, dennoch klingt seine Geschichte seltsam. Allerdings darf man bei dieser Geschichte nicht auf eine völlige Aufklärung hoffen - die meisten Fragen bleiben unbeantwortet und der Leser kann selbst spekulieren, was hinter den Vorgängen steckte. Verlangen ist daher eine der unspektakulärsten Geschichten des Bandes. Sicherlich ist es nicht uninteressant zu lesen, wie eine Frau zur Kleptomanin wird, allerdings geht der Inhalt im Vergleich zu den anderen Beiträgen unter. Schnee ist eine anrührende Geschichte, die weniger ausgefallen als manch anderer Beitrag ist - aber der alte Mann im Gefängnis und die junge schwangere Frau sind trotz der Kürze zwei interessante Figuren und der Schluss hält zwei Pointen bereit. Der Schlüssel ist die längste und eine tragikomische Geschichte voller Wendungen. Atris kann einem trotz seiner Kriminalität beinah leid tun, als der Schlüssel im Magen der Dogge verschwindet und jetzt guter Rat teuer ist. Ein Tierarzt wird konsultiert, für die stationäre OP ist aber keine Zeit, das Abführmittel wirkt auch anders als gedacht und das ist noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. Freunde des schwarzen Humors kommen hier ganz auf ihre Kosten.

Einsam ist wiederum ein sehr berührender Fall. es ist nicht leicht zu lesen, wie Larissa erst in die Wohnung entführt wird und selbst eine Nachbarin sich nicht einmischt, weil es sie nichts angeht. Anschließend wird sie gewaltsam entjungfert, verschweigt den Vorfall vor Scham und bringt eigenhändig ein Kind zur Welt - mit fatalen Folgen. Wenigstens endet die Geschichte ansatzweise positiv, was nach all dem Elend erleichternd ist. Justiz ist eine der wenigen eher heiteren Geschichten. Harkan Turan ist ein ziemlich origineller Kauz, der in einen Justizirrtum verwickelt wird, allerdings auch selbst gehörig dazu beiträgt, dass er erst spät aufgeklärt wird. Ausgleich hätte das Potential für einen spannenden Thriller und ist zugleich ein reizvoller Ausnahmefall der Justiz. Die Geschichte mündet in einer recht außergewöhnlichen Richterentscheidung, die aber zeigt, dass auch Justizbeamte nicht frei von Gefühlen in ihren Urteilen sind - und der Leser kann kaum anders, als diesen Fall gutzuheißen. Geheimnisse ist der absolut amüsante Schlusspunkt. Ein Klient, der sich permanent von Agenten verfolgt sieht und hinter allem Ronald Reagan vermutet, der angeblich von Helmut Kohl auf dessen Dachboden versteckt wird, zerrt verständlicherweise an den Nerven - aber die Einweisung verläuft etwas anders als geplant. Sehr witzige Pointe und es ist durchaus erleichternd, gerade zum Ende solch einen Beitrag zu lesen.

Auffällig ist der sehr reduzierter Stil, in dem von Schirach seine Geschichten erzählt - kurze Sätze, nicht stakkatoartig, sondern gleichmäßig, aber fast ausschließlich Hauptsätze, sehr überschaubar. Es ist ein sehr nüchterner Tonfall, erinnert ein bisschen an Autoren wie Hemingway. Dieser Stil ist zunächst gewöhnungsbedürftig, doch schon nach den ersten Seiten ist klar, dass er perfekt zu dem Erzählten passt. Die Wucht des Inhalts wiegt so schwer, dass ein ausschmückender Stil, jedes zusätzliche Wort die Gefahr bergen würde, dass die Aussagen zu pathetisch wirken.

Fazit:

Eine Sammlung sehr unterhaltsamer Geschichten aus einem bewegten Anwaltsleben, die sich anscheinend so oder zumindest so ähnlich wirklich zugetragen haben. Die Geschichten sind teils sehr berührend, schockierend und verstörend, mitunter aber auch witzig und kurios. Der Stil ist in den ersten Minuten gewöhnungsbedürftig, dann aber sehr passend.

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