5. Juni 2012

Öland - Johan Theorin

Produktinfos:

Ausgabe: 2008
Seiten: 446
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Der Autor:

Johan Theorin, geboren 1963 auf Göteborg, kennt Öland gut aus seiner Kindheit und seinen Sommerurlauben und ließ sich durch die Landschaft zu seinem ersten Öland-Krimi inspirieren. Das Debüt wurde von den Kritiken international euphorisch aufgenommen, die Filmrechte sind bereits verkauft. Weitere (eigenständige) Werke der Öland-Reihe: "Nebelsturm", "Blutstein" und "Inselgrab"

Inhalt:

Spätsommer im schwedischen Öland, 1972: Der fünfjährige Jens verschwindet beim Spielen im Nebel und kehrt nie mehr zurück. Die Polizei vermutet, dass er im Meer ertrunken ist, doch trotz aufwändiger Suche wird er nicht gefunden. Vor allem seine Mutter, die zu dem Zeitpunkt bereits geschieden war, leidet sehr, zumal Jens ihr einziges Kind war. Sie glaubt nicht ans Ertrinken, da Jens Angst vor Wasser hatte, sondern vermutet eine Entführung.

20 Jahre später: Jens' Mutter Julia hat Öland verlassen. Sie hat das Verschwinden nie verwunden, lebt allein und hofft immer noch auf eine wundersame Rückkehr. Auch zu ihrer Familie hat sie wenig Kontakt. Überraschend erreicht sie ein Anruf ihres Vaters Gerlof. Der alte Gerlof, der inzwischen im Altersheim in Öland lebt, hat anonym eine Sandale zugeschickt bekommen, die Jens beim Verschwinden getragen hat. Julia soll zurückkommen und ihm bei der Suche nach den Hintergründen helfen.

Julia folgt der Bitte und muss sich nicht nur mit der schmerzhaften Vergangenheit, sondern auch mit dem abgekühlten Verhältnis zu ihrem Vater auseinandersetzen. Zudem hält sich nach wie vor das unheimliche Gerücht, der einst als Mörder von der Insel geflohene Nils Kant habe Jens auf dem Gewissen. Als Kind tötete er angeblich seinen eigenen Bruder, und auch als Erwachsener brachte er nur Unglück über den Ort. 1972 zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit einigen Jahren tot - doch manch einer behauptet, er wandere immer noch über das neblige Land. Angeblich erhielt seine Mutter Vera noch Jahre nach seiner Beerdigung Postkarten aus aller Welt wie vor seinem Tod. Ist er damals gar nicht gestorben ...?

Bewertung:

Johan Theorin legt hier seinen ersten Teil des geplanten Öland-Quartetts vor, das sich jeweils den einzelnen Jahreszeiten widmen soll. Er beginnt mit dem Herbst und macht dem Genre "Schwedenkrimi" alle Ehre, indem er sich auf ein atmosphärisch dichtes und ruhiges Erzählen besinnt.

Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft

Zwei eng miteinander verwobene Handlungsstränge sind es, die den Leser auf unterschiedliche Arten fesseln. Der eine spielt in den neunziger Jahren und zeigt das Bemühen von Gerlof und seiner Tochter Julia, das Verschwinden ihres Enkels bzw. Sohnes aufzuklären. Dass Jens tot ist, scheint außer Frage zu stehen, doch wer hat seine Sandale geschickt? War es ein Unfall, der nicht eingestanden wurde, oder gar Mord? Hat der Täter selbst die Sandale Gerlof zukommen lassen, war es jemand aus seinem Umfeld, soll die Aufforderung zu weiteren Nachforschungen sein?

Kurz darauf kommt Gerlofs Freund Ernst bei Arbeiten im Steinbruch ums Leben - für die Polizei ein normaler Unfall eines Steinmetzes, doch daran mag Gerlof nicht glauben. Viele Jahre lang hat er mit Ernst und dem Dritten im Bunde, John Hagman, über Jens' Verschwinden diskutiert. Ernst glaubte an die verwegene Nils-Kant-Theorie und schien kurz vor seinem Tod Recherchen angestellt zu haben. Für Gerlof geht es nunmehr nicht nur um sein Enkelkind, sondern auch um das Schicksal seines Freundes.

Der andere Erzählstrang führt in das Leben des mysteriösen Nils Kant, der auch Jahrzehnte nach seinem Tod die Schreckgestalt der Insel geblieben ist. Die Familie Kant besitzt viel Land in Stenvik, der Vater stirbt früh, und schon als Zehnjähriger fühlt sich Nils verantwortlich. 1936 ertrinkt sein jüngerer Bruder, Gerüchte über Nils' Beteiligung wollen nicht verstummen. Entschädigt wird er durch das enge Verhältnis zu seiner Mutter Vera, die ihm Arbeit im Steinbruch verschafft. 1945 kommt es zu einem blutigen Aufeinandertreffen mit zwei deutschen Soldaten. Nils flieht, und die Schiffe und Häfen der Welt sind von nun an seine Heimat. Anfang der Sechziger wird seine Leiche in einem Sarg heimtransportiert - doch es gibt immer noch Leute, die nicht daran glauben, dass es tatsächlich Nils Kant war, der dort beerdigt wurde.

Gekonnt spielt der Autor mit einer Mischung aus dichter Atmosphäre und einer sich stetig steigernden Spannung. Geht es anfangs "nur" um Klarheit über Jens' Verbleiben, scheint mit dem gewaltsamen Tod von Ernst der Fall wieder aktuell zu werden. Irgendjemand auf Öland scheint mit allen Mitteln eine Aufklärung verhindern zu wollen, während gleichzeitig irgendjemand mit dem Senden der Sandale die Vergangenheit wieder aufrollt. Zwar bleibt der Roman immer gemächlich und verfällt nie in ein rasantes Thriller-Tempo, doch gerade gegen Ende gibt es ein paar höchst gefährliche Momente, in denen die Hauptfiguren in große Gefahr geraten. Die Geschichte um Nils Kant, die immer wieder in Rückblicken kapitelweise eingeschoben wird, bricht stets an einer verheißungsvollen Stelle ab, was die Spannung erhöht. Bis kurz vor Schluss bleiben Leser wie auch Gerlof und Julia im Unklaren darüber, auf welche Weise genau Nils Kant in die Geschehnisse verwickelt ist.

Interessante Figuren

Überzeugend lässt der Autor den Aberglauben und das Misstrauen der Bewohner Ölands aufleben, für die Nils Kant als Unglücksrabe der Insel ein Tabu geworden ist. Aber ebenso erfährt man, dass seine Rolle nicht einfach mit der des bösen Schwarzen Mannes abzutun ist, denn trotz all seiner Fehler ist auch Nils Kant eine tragische Figur, der teilweise Unrecht getan wird. Der einfältige Junge mit dem Mutterkomplex, schon früh emotional abstumpft und über sein Verschwinden hinaus von vielen gehasst wird, der für manche noch als Geist über die Ebene wandelt oder vielleicht seinen Tod vorgetäuscht hat, ist vielschichtiger, als man es auf den ersten Blick glauben mag. Am Beispiel von Nils Kant erkennt man, wie ein einzelner Mensch zum Symbol des Unglücks eines Ortes werden kann.

Sehr gut gelungen ist auch die Darstellung des alten Gerlof. Ungeachtet seiner körperlichen Beschwerden, die ihn zeitweise kaum aufstehen lassen, ist er klar im Kopf und verfolgt unbeirrt die Suche auf der Wahrheit, was mit seinem Enkel Jens und seinem besten Freund Ernst geschehen ist. Sein Motto, dass jede Geschichte ihr eigenes Erzähltempo braucht, entspricht der Konzeption des Romans. Fast zwangsläufig kommt es dadurch zu Komplikationen mit seiner ungeduldigen Tochter Julia, die mit den bedächtigen und verschleierten Aussagen ihres Vaters nicht viel anfangen kann. Die Beziehung der beiden ist geprägt durch Distanz und Spannungen. Nach einem Jahr Funkstille bedeutet die gemeinsame Suche eine schwierige Annäherung, in der die beiden nicht nur einmal aneinander geraten.

Kaum Schwächen

Bei genauer Betrachtung lässt sich feststellen, dass die Figur Julia vor allem durch ihre Konfrontation mit Gerlof lebt, aber man ansonsten wenig über sie erfährt. Gerlof steht im Mittelpunkt, seine Gedanken und Handlungen, er ist der Initiator, der Öland über all die Jahre nicht verlassen hat und einen stillen Plan verfolgt, wie er das Schicksal seines Enkels klärt, in den er Julia nur teilweise einweiht. Von Julia erfährt man hauptsächlich, dass sie sich von ihrer Familie distanziert hat, abgesehen davon bleibt sie etwas zu blass.

Des Weiteren ist das Ende mit all seinen Hintergründen zwar logisch aufgebaut, aber zum einen reimt sich Gerlof ein bisschen zu viel von allein zusammen, fast wie ein kleiner Sherlock Holmes, zum anderen kommt es etwas zu plötzlich, dass eine bisher kaum beteiligte Person in den Mittelpunkt gerückt wird. Die überraschende Wendung wird vor allem von Julia etwas zu gefasst aufgenommen.

Fazit:

Ein sehr stimmungsvoller und größtenteils ruhiger Schwedenkrimi mit interessanten Figuren und einem gelungenen Zusammenspiel zwischen Rückblenden und Gegenwart. Von nur sehr kleinen Schwächen abgesehen ein sehr empfehlenswerter Kriminalroman, vor allem für alle Leser, die kein hohes Tempo und keine Actionszenen brauchen.

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