27. Juni 2012

Ohne ein Wort - Linwood Barclay

Produktfakten:

Ausgabe: 2007
Seiten: 496
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Der Autor:

Linwood Barclay studierte zunächst Literatur und arbeitete als Journalist in Kanada. Er begann eine Krimireihe, die bislang nicht in deutsch übersetzt wurde. 2007 erscheint sein Thriller "Ohne ein Wort", der ihn sofort zum Bestsellerautor machte. Weitere Werke sind "Dem Tode nah" und "In Todesangst".

Inhalt:

Die vierzehnjährige Cynthia Bigge verschwindet nach einem abendlichen Streit mit ihren Eltern wütend im Zimmer. Am nächsten Morgen ist es ungewohnt still im Haus. Sowohl die Eltern als auch Cynthias älterer Bruder Todd sind verschwunden, die Betten wirken unberührt, keine Nachricht wurde hinterlassen. Todd erscheint nicht in der Schule, die Autos sind zudem verschwunden. Am Nachmittag kommt schließlich die Polizei und Cynthias Familie wird vermisst gemeldet.

Knapp 25 Jahre später: Cynthias Familie ist bis heute spurlos verschwunden geblieben. Cynthia ist mittlerweile glücklich mit dem Highschool-Lehrer Terry verheiratet und hat eine achtjährige Tochter namens Grace. Trotzdem denkt sie immer noch ständig an ihre Familie und grübelt nach, was geschehen sein mag - und ob ihre Familie vielleicht doch noch lebt.

Große Hoffnung legt sie in eine Fernsehsendung, die die Ereignisse noch einmal aufrollt, doch niemand meldet sich. Dann aber häufen sich plötzlich seltsame Vorfälle mit anonymen Nachrichten, die angeblich von Cynthias Familie stammen. Schließlich finden Cynthia und Terry einen Filzhut im Haus, wie ihn Cynthias Vater immer trug. Stammen diese Nachrichten wirklich von Cynthias Familie? Im Zuge der neuen Ermittlungen stellt sich zudem heraus, dass ihr Vater offenbar nicht der war, der er zu sein vorgab ...

Bewertung:


"Ohne ein Wort" ist der erste in Deutschland erschienene Roman Linwood Barclays, der zurecht die Bestsellerlisten stürmte und ihn sofort zu einem internationalen Durchbruch als Thrillerautor verhalf. Der Roman ist vielleicht kein Meisterwerk der anspruchsvollen Literatur, aber als Thriller rundum gelungen.

Der Plot ist simpel und dennoch effektiv: Ein Mädchen stellt morgens fest, dass seine Familie über Nacht spurlos verschwunden ist. Nichts deutet auf ein Verbrechen hin, es gibt weder Kampfspuren noch Blutflecken, alles ist ordentlich und wie am Abend zuvor. Keiner der Nachbarn hat etwas gehört oder gesehen, die Familie hat keine Koffer gepackt und sich am Tag zuvor in irgendeiner Form seltsam verhalten. Es ist wie ein böser Traum für die vierzehnjährige Cynthia, die natürlich bis mittags erst einmal an eine logische Erklärung glaubt - ihr Vater ist vielleicht wieder auf einer spontanen Geschäftsreise, die Mutter bringt Bruder Todd in die Schule. Doch spätestens am Abend steht fest, dass etwas Furchtbares geschehen sein muss. Der Leser fiebert automatisch mit Cynthia mit und möchte unbedingt erfahren, was hinter dieser Sache steckt - ist Cynthias Familie geflohen, ist sie in kriminelle Machenschaften verwickelt gewesen, wurde sie entführt, leben die drei noch oder sind sie schon lange tot? - Es gibt eine Reihe möglicher Szenarien, die allesamt auf ihre Weise beunruhigend sind. Cynthia wächst bei ihrer einzigen verbliebenen Verwandten auf, Tante Tess, liebevoll behütet, aber natürlich dennoch immer traumatisiert durch dieses unerklärliche Erlebnis. Erschwerend kommt hinzu, dass ihre letzten Worte an die Eltern ein hysterisches "Ich wünschte, ihr wärt tot!" waren, bevor sie ihre Zimmertür zuknallte und sie sich insofern schuldig am Verschwinden der Familie fühlt - und sogar insgeheim befürchtet, sie könnten sie absichtlich verlassen haben.

Die Handlung gewinnt zusätzlich an Fahrt, als die seltsamen Nachrichten eintreffen. Cynthia erhält einen anonymen Anruf und eine E-Mail mit der Botschaft, ihre Familie habe ihr verziehen - wer das schreibt und was sie ihr verziehen haben, bleibt allerdings ein Rätsel. Der Hut scheint eindeutig von ihrem Vater zu stammen, inklusive seinem Geruch und dem eingemalten C als Kennzeichen. Doch sowohl die Polizei als auch zu Cynthias Verzweiflung Terry halten noch eine Alternative für möglich - nämlich, dass Cynthia unbewusst diese Dinge erfindet. Sie hat keinen Zeugen für den Anruf, die Mail könnte fingiert sein, der Hut aus ihrem eigenen Fundus stammen. Terry fürchtet ernsthaft, dass seine Frau den Sinn für die Realität verliert und sich krankhaft in den Wunsch hineinsteigert, ihre Familie möge noch leben und Kontakt zu ihr suchen. Noch spannender wird es, als das Paar schließlich einen Privatdetektiv einschaltet, um endlich zu neuen Erkenntnisse zu gelangen. Dabei stellt sich heraus, dass Cynthias Vater offiziell nirgendwo gemeldet war und womöglich einen falschen Namen trug. Das gibt wiederum der Theorie neue Nahrung, dass er etwas mit dem Verschwinden zu tun hat - ebenso wie Cynthias einstige Teenagerliebelei mit dem Sohn eines hiesigen Chefs des organisierten Verbrechens. Lange Zeit scheint es abwechselnd plausibel, dass Cynthias Vater in eine kriminelle Sache verwickelt war oder dass die Familie unschuldig jemandem zum Opfer fiel. Die Frage nach der Auflösung fesselt den Leser bis zum Schluss. Die Charaktere sind nicht extrem ausgefeilt, aber schon mehr als bloße Abziehfiguren. Terry ist hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, seiner Frau zu glauben und der Angst, sie könne diese Dinge unbewusst erfinden. Auch die unvermeidlich daraus resultierenden Krisenzeiten des Paares sind realistisch dargestellt. Cynthia ist deutlich gezeichnet durch ihre Vergangenheit und neigt dazu, Tochter Grace zu deren Ärger überfürsorglich zu behandeln. Terry versucht, immer Verständnis für Cynthias Trauma aufzubringen, leidet allerdings auch unter ihren Ängsten und ständigen Grübeleien. Eine besonders sympathische Figur ist Cynthias Tante Tess, die nicht nur für ihre Nichte, sondern auch für Terry ein wenig die Mutterrolle übernommen hat.

Zu bemängeln gibt an diesem klassischen Pageturner nur sehr wenig. Es ist vielleicht nicht ganz glücklich, dass der Prolog, der zu Cynthias Teenagerzeiten spielt, in der dritten Person im personalen Stil erzählt wird - denn als die Geschichte anschließend in die Haupthandlung 25 Jahren danach wechselt, übernimmt Terry die Rolle des Erzählers. Wer Bücher mit Ich-Erzählern nicht so gerne mag, wird durch den Prolog also getäuscht. Es ist zudem etwas seltsam, wie fest einer der ehemaligen Ermittler davon überzeugt ist, dass Cynthia in die Geschichte verwickelt war - dass ein Teenager seine Familie auslöscht, mag durchaus vorkommen, aber dass ein vierzehnjähriges Mädchen die Eltern und den fast erwachsenen Bruder sowie die beiden Autos dann auch noch in einer Nacht verschwinden lässt, ohne dass Passanten oder Nachbarn etwas merken oder irgendwelche Spuren im Haus hinterlassen werden, ist einfach ein völlig überzogenes Szenario. Nicht ganz logisch ist außerdem, dass die Unstimmigkeiten bei Clayton Bigge, Cynthias Vater, erst 25 Jahre später durch den Privatdetektiv aufgedeckt werden und die Polizei nicht schon damals bei den Ermittlungen darauf stieß, dass er weder bei der Kfz-Stelle gemeldet ist noch eine Sozialversicherungsnummer unter seinem Namen hat - eigentlich hätte das routinemäßig auffallen müssen bei der Suche nach Hintergründen zu den vermissten Personen. Dann gibt es da noch die eher überflüssigen kurzen Kapitel, in denen sich zwei Leute in Andeutungen ergehen, woraus der Leser nach und nach schließen kann, dass sie mit dem Verschwinden zu tun haben. An ein, zwei Stellen verraten diese Andeutungen etwas zu viel und insgesamt sind diese Einschübe eher unnötig. All diese Dinge fallen aber nur schwach ins Gewicht, da der Rest eben sehr stimmig und unterhaltsam ist.

Fazit:


Ein von Anfang bis Ende sehr spannender Thriller mit einer reizvollen Grundidee. Der Leser fliegt förmlich durch die rasante Handlung des Romans, der an keiner Stelle Längen aufweist und sich immer noch ein bisschen zu steigern weiß. Die Charaktere sind gelungen und die sehr kleinen Mängel fallen nur bei etwas genauerer Betrachtung auf. Insgesamt ein äußerst unterhaltsamer Thriller, wenn man keine literarische Höchstleistung erwartet.

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