4. Juni 2012

Gina aus dem Doktorhaus - Rolf Ulrici

Produktinfos:

Ausgabe: 1966
Seiten: 186
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Der Autor:

Rolf Ulrici lebte von 1922 bis 1997 und war erst als Journalist tätig, ehe ihm der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Er schrieb hauptsächlich Kinder- und Jugendbücher, die sich ganz im Stil der damaligen Zeit getrennt an Jungen und Mädchen richteten. Dazu zählten vor allem Tiergeschichten und Abenteuerbücher. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die Käpt'n-Konny-Reihe. Weitere Werke sind u. a. die Buchreihen "Diane", "Sheriff Bill", "Raumschiff Monitor" und "Weltraumklipper".

Inhalt:

Familie Morichell mit der dreizehnjährigen Gina und dem etwas jüngeren Will zieht aus Bremen in die Lüneburger Heide. Hier will Doktor Morichell seine neue Praxis als Landarzt eröffnen. Der Umzug von der Stadt ins ländliche Dorf mit der Praxis im eigenen Haus soll für die Familie ein angenehmeres Leben bringen. Aber der Start verläuft alles andere als ideal. Das Häuschen und der Garten sind in einem recht verwilderten Zustand, obendrein tobt ein riesiger schwarzer Hund auf dem Grundstück herum, den sie schließlich behalten und der Ginas ständiger Begleiter wird.

Auch die Praxiseröffnung bringt Probleme. Die eingesessenen Bewohner sind misstrauisch gegenüber den Stadtleuten. Viele der älteren schwören lieber auf Naturheilmittel und trauen dem jungen Arzt nicht viel zu. Bald gehen böse Gerüchte im Dorf um, nur wenige Patienten kommen in die Praxis. Außerdem ist da die luxuriöse Heideklinik mit dem überheblichen Professor Weymann, dem Doktor Morichell offenbar ein Dorn im Auge ist.

Dagegen ist seine Tochter Billy ein fröhliches und liebenswertes Mädchen, das sich schnell mit Gina anfreundet. Sie gibt sich alle Mühe, damit sich die Familie Morichell bald in der Heide heimisch fühlt. Außerdem gibt es einige Abenteuer zu bestehen mit nächtlichem Spuk, abergläubischen Einwohnern und einigen kuriosen Patienten ...

Bewertung:

"Gina aus dem Doktorhaus" ist eines der typischen Jugendbücher der sechziger Jahre, die sich strikt in Mädchen- und Jungenbücher aufteilten - und eines von zahlreichen Werke aus der Feder von Rolf Ulrici, mit Sicherheit aber auch eines seiner besten.

Liebenswerte Charaktere

Die Protagonistin Gina ist ein sympathisches Mädchen, das eine ideale Identifikationsfigur für Leserinnen darstellt. Sie ist ein lustiges dreizehnjähriges Mädel, das den Eltern gut zur Hand geht, aber auch nicht übertrieben brav ist. Obwohl eine Arztfamilie, sind die Morichells alles andere als wohlhabend, schließlich haben sie ihr ganzes Geld in das Haus gesteckt und müssen erst einmal bescheiden leben, bis sie sich die Praxis etabliert hat. Sie besitzen also weder einen Fernseher noch ein Auto, dafür steht Naturverbundenheit an vorderer Stelle, und Ginas liebste Beschäftigung ist schon bald, mit dem riesigen schwarzen Hund "Zottel" herumzutollen.

Ein lustiges Gegenstück ist ihr etwas jüngerer Bruder Will, der gern mit Dingen handelt und öfter mal spricht, bevor er nachdenkt, und dabei manches Mal auf die Nase fällt. Ginas Eltern sind wahre Traumeltern, optimistisch und fast immer fröhlich, vor allem Doktor Morichell nimmt die ersten Widrigkeiten mit Humor und vermittelt seiner Familie viel Sicherheit.

Eine gelungene Figur ist der Professor der piekfeinen Klinik, der anfangs naserümpfend den neuen Kollegen betrachtet, der da Einzug hält. Seine Klinik ist für reiche Patienten gedacht, während Doktor Morichell ein typischer Landarzt ist, der vor allem den ärmeren Dorfbewohnern helfen will. In den ersten Wochen nutzt der Professor jede Gelegenheit, sich zu beschweren, und schreibt pikierte Briefe an den Doktor. Das wandelt sich allerdings, als sich Gina ausgerechnet mit seiner Tochter Billy anfreundet. Die schicke, selbstbewusste Billy freut sich, endlich eine Freundin in der Nähe gefunden zu haben, und blüht in dem fröhlichen Haushalt der Familie Morichell förmlich auf. Das sieht letztlich auch der Professor ein, der am Ende gar nicht mehr so unangenehm ist, sondern richtig freundlich sein kann - vor allem, als er Ginas Tante Christa kennenlernt, die zu Besuch kommt und von dem Professor nicht weniger angetan zu sein scheint.

Abenteuerlich und lehrreich

Einerseits ist das Buch in vielerlei Hinsicht lehrreich für junge Leserinnen. Ein großes Thema ist Freundschaft, die sich nicht um unterschiedliche Herkünfte schert. Billy mag reich sein und die neueste Kleidung tragen, aber sie fühlt sich einsam, da ihr Vater noch eine zweite Klinik besitzt und oft tagelang weg ist. Für sie ist es ein Spaß, im Haushalt der Morichells bei den Renovierungsarbeiten mitanzupacken und endlich einmal in einer richtigen Familie zu leben. Daneben geht es um das Thema Vorurteile. Doktor Morichell hat es als Zugezogener erst einmal schwer bei den Dorfbewohnern, die misstrauisch reagieren. Leider gibt es auch bald ein paar böse Gerüchte im Ort, allen voran das Drama um Julchen Focke. Das leicht zurückgebliebene Mädchen wurde von Will so verschreckt, dass es anschließend gar heißt, der Doktor probiere seine Spitzen an Kindern aus. Nun bleiben die Patienten ganz weg, und Familie Morichell muss ernsthaft überlegen, ob man nicht doch die Praxis aufgibt und notgedrungen wieder in die Stadt zurückzieht.

Daneben erschwert der Aberglaube der Bevölkerung das Einleben. Gerade die alten Dorfbewohner gehen statt zu einem richtigen Arzt lieber zur alten Witwe Mickenick, die als Hexe gilt und für jedes Leiden ein Tränklein parat hat. Die moderne Arztfamilie hat einen schweren Stand und muss sich erst beweisen, ehe sie zur Dorfgemeinschaft gehört.

Abgesehen von diesen ernsten Thematiken geht es in dem Buch vor allem abenteuerlich und witzig zu. Das Häuschen der Morichells liegt gemütlich in einem verwilderten Garten. Die Stadtkinder Gina und Will lernen staunend all die Geheimnisse der Heidenatur kennen, vor allem durch Wills neuen Freund Herbert, dem Sohn der Schreinerfamilie, die als eine der wenigen gleich zu den Morichells halten. Sie beobachten das Haus der angeblichen Hexe Mickenick, streifen durch die Wälder und werkeln fröhlich am Haus herum. Natürlich ist auch der riesige Zottel immer dabei, bei dem es aber lange Zeit bangen heißt, ob irgendwann sein richtiger Besitzer auftaucht und der dem Landpolizisten, der ihn zur Überprüfung mitnimmt, entwischt und verzweifelt von Gina gesucht wird.

Die urtümliche Gegend der Lüneburger Heidelandschaft und das dörfliche Leben machen den Charme des Buches aus. Zu den schönsten Erlebnisse des Sommers gehört der Besuch des alten Schäfers, der eine Salbe für seinen Daumen braucht und notgedrungen von Gina und Billy versorgt werden muss, die allein zuhause sind. Dabei gerät die Schafherde in Aufruhr und besetzt bald nicht nur den gesamten Garten der Morichells, sondern stürmt auch noch ins Haus. Eine sehr lustige Szene ist auch der Moment, als der Professor Gina und ihre Mutter, von der er sehr begeistert ist, im Auto mitnimmt, ohne zu ahnen, dass es sich hier um Frau und Töchterchen des Kollegen handelt, dem er gerade wieder einen bösen Brief geschrieben hat - was er dann aber noch früh genug erfährt.

Kaum Schwächen

Da der Roman aus den sechziger Jahren stammt, wirkt er natürlich für heutige Leser, vor allem Kinder, ein wenig altmodisch. Es ist schon eine erstaunliche Vorstellung, dass es im Haus der Morichells keinen Fernseher gibt und ein Auto für eine Arztfamilie ein Luxus ist, den sie sich nicht leisten können. Vor allem aber erscheint Doktor Morichell gerade am Anfang etwas zu naiv und unbeschwert. Es scheint Wochen zu dauern, ehe die Familie wirklich etwas verdient, denn anfangs zahlen die wenigen Patienten nur in Naturalien - sie bringen Hühner vorbei oder schenken Eier. Zu Recht ist Frau Morichell besorgt, dass sie bald erheblichen Geldmangel haben werden, aber ihr Mann sieht alles optimistisch. Das gilt auch für den ersten Besuch des Hauses, in dem sich einige Baufälligkeiten offenbaren. Die Wasserleitung funktioniert nicht, statt einem Herd muss der Campingkocher herhalten, im Holzboden sind vereinzelte Löcher. Doktor Morichell aber findet diese Komplikationen eher lustig und nimmt alles übertrieben gelassen.

Etwas schade ist außerdem, dass man nie erfährt, was mit Billys Mutter geschehen ist, die es einfach nicht gibt - vermutlich ist sie gestorben, aber es gibt keinen eindeutigen Hinweis, obwohl das gut in die Szene gepasst hätte, in der Billy über ihre Einsamkeit klagt.

Fazit:

Ein sehr schönes Mädchenbuch ab zehn Jahren, das sich vor allem mit Naturverbundenheit, Freundschaft und Toleranz befasst. Die Hauptfigur ist ein sehr liebenswerter Charakter, auch die restlichen Figuren sind gelungen. Sieht man davon ab, dass das Buch in manchen Dingen ein bisschen naiv ist, bleibt eine ganz klare Leseempfehlung.

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