25. Juni 2012

Die Unschuldsengel - Henry James

Produktinfos:

Auflage: 2005
Länge: ca. 65 Minuten
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Der Autor:

Henry James wurde 1843 in New York geboren und starb 1916 in Großbritannien. Er begann ein Studium der Rechtswissenschaften, interessierte sich aber schon bald mehr für die Literatur. Zunächst verfasste er Kurzgeschichten und Zeitungsartikel, danach auch Romane und Dramen. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Bildnis einer Dame", "Washington Square" und "Daisy Miller".

Inhalt:

Nach dem Tod ihres Vaters sucht eine junge Pfarrerstochter eine Anstellung als Gouvernante. Sie meldet sich auf eine Anzeige und sucht den potenziellen Arbeitgeber in London auf. Der attraktive Herr möchte sie gern als Kindermädchen für seine Nichte Flora und seinen Neffen Miles einstellen. Seit dem Tod der Eltern ist er der Vormund der Kinder, die aber nicht in seinem Stadthaus, sondern auf dem Landsitz Bly leben. Dort kümmert sich derzeit die Haushälterin Mrs. Grose um die beiden, aber in Zukunft soll das ein Kindermädchen übernehmen.

Die Gouvernante wird vom Charme ihres Arbeitgebers eingefangen und ist sogleich einverstanden. Allerdings wird ihr vom Vormund abverlangt, dass sie ihn niemals um Hilfe bittet, sondern alle Angelegenheiten selbstständig regelt. Auf Bly freundet sie sich rasch mit der hübschen, liebenswerten zwölfjährigen Flora an, und auch mit der einfachen aber gutmütigen Mrs. Grose versteht sie sich gut.

Die Stimmung ändert sich aber, als der zehnjährige Miles aus dem Internat heimgeschickt wird, das er wegen ungebührlichen Verhaltens nicht mehr besuchen darf. Mrs. Grose ist entsetzt und beteuert, dass Miles ein durch und durch liebenswerter Junge sei. Als er eintrifft, ist auch die Gouvernante von dem charmanten hübschen Jungen hingerissen. Dann aber sieht sie plötzlich immer öfter einen unheilvollen Mann und eine Frau, die die Kinder zu beobachten scheinen. Als sie Mrs. Grose davon berichtet, erfährt sie, dass es das ehemalige Kindermädchen und ihr Geliebter, der Verwalter, sein müssen, aber beide sind bereits tot ...

Bewertung:

"Die Unschuldsengel" ist die Hörspielumsetzung eines der bekanntesten Werke von Henry James, das vor allem als "Die Drehung der Schraube" oder "Das Geheimnis von Bly" bekannt ist. Titania Medien hat hier wie üblich eine werkgetreue Umsetzung abgeliefert, die mit exzellenten Sprechern den Hörer in den Bann zieht. Das Thema ist äußerst reizvoll und sorgt von Anfang an für eine fesselnde Handlung. Die für den Hörer namenlos bleibende Gouvernante fungiert gleichzeitig als Erzählerin der Geschichte. Schon gleich zu Beginn sorgt sie mit ihrer Bemerkung, sie hätte jene Stelle niemals annehmen dürfen, für wohlige Spannung. Ein bisschen eigenartig erscheint die eindringliche Anweisung des Vormundes, ihn niemals um Hilfe zu bitten und alle Angelegenheiten auf Bly die Kinder betreffend komplett allein zu treffen. Die Erzieherin allerdings wird vom Charme des edlen Herrn eingenommen und akzeptiert die doch sehr eigenwillige Anweisung.

Zunächst scheint der Landsitz Bly eine wahre Idylle zu sein. Die Gouvernante wird sehr herzlich durch die Haushälterin Mrs. Grose und die kleine Flora begrüßt. Mrs. Grose verhält sich mütterlich-zutraulich und ist offenbar froh, weibliche Gesellschaft in der einsamen Gegend zu bekommen. Flora ist ein reizendes Mädchen, das alle Erwartungen der jungen Frau noch übertrifft: Ein bildhübsches Mädchen an der Schwelle zur Jugend, fröhlich und offenbar sehr von ihrer Gouvernante begeistert. Nur zu gern teilt sie sich mit der Erzieherin das Zimmer und freut sich auf Gutenachtgeschichten, ohne jede Scheu sieht sie in der jungen Frau offenbar gleich eine beste Freundin. Die Gouvernante ist überglücklich über diese Aufnahme, erst recht, als Mrs. Grose verspricht, dass der kleine Miles noch charmanter und niedlicher als seine große Schwester ist. Umso seltsamer ist dann der Brief von der Schule, dass Miles das Internat verlassen muss. Mrs. Grose ist empört und beteuert, dass Miles niemals seine Mitschüler, wie im Brief behauptet, zu "schändlichem Verhalten" anstiften könne. Die Gouvernante ist ein wenig misstrauischer, doch als sie Miles drei Wochen später kennenlernt, wird auch sie ganz von ihm eingenommen. Der zehnjährige Miles ist ein kleiner Gentleman, überaus wohlerzogen, und nun ist auch die Gouvernante überzeugt, dass sich die Schule geirrt haben muss - und sie will die Kinder gern zuhause unterrichten.

Bly scheint das Paradies zu sein - bis die junge Frau von unten einen fremden Mann im Turm sieht. Sein Blick erscheint ihr wild und dämonisch, seine ganze Ausstrahlung ist unheilvoll und düster. Mrs. Grose beteuert, es müsse eine Täuschung gewesen sein, doch nach der Beschreibung erkennt sie in der Gestalt des rothaarigen Mannes tatsächlich jemanden wieder - Peter Quint, den ehemaligen Verwalter von Bly. Der liederliche Quint ist allerdings seit Jahren tot, nachdem er nach einem Kneipenbesuch tödlich stürzte. Gleiches gilt für eine Frauengestalt, die die Erzieherin am See sieht - die Beschreibung passt haargenau auf Violet Jessel, die vorherige Erzieherin der Kinder, Quints Geliebte und inzwischen ebenfalls verstorben, durch Selbstmord. Immer häufiger sieht die Gouvernante die beiden Erscheinungen, die nach Miles und Flora rufen. Mrs. Grose versucht sie zu überzeugen, dass es Einbildung sein muss, doch die Erzieherin glaubt nicht nur an das, was sie sieht, sondern auch, dass die Kinder die Geister ebenfalls sehen. Vor allem der kleine Miles war zu Quints Lebzeiten stark von dem Mann fasziniert, und die Gouvernante glaubt, dass die Geister der Verstorbenen die Kinder zu sich holen wollen.

Ab hier verschwimmen Wahn und Wirklichkeit. Sind es Halluzinationen der zunehmend hysterischen Gouvernante, oder sind es in der Tat Geister, die nach dem Leben der Kinder trachten? Lügen Flora und Miles, wenn sie behaupten, niemanden zu sehen oder zu hören, oder treiben sie ein raffiniertes Spiel mit der Erzieherin? Aus den einstigen Unschuldsengeln sind ihrer Meinung nach kleine Teufel geworden. Nun ergibt es auch einen Sinn, dass Miles wegen schmutziger Worte von der Schule verwiesen wurde, denn genau die hat er schließlich bei Peter Quint gelernt. Die Kinder beteuern aber, niemanden zu sehen, und auch Mrs. Grose glaubt zunehmend, dass die neue Erzieherin an Wahnvorstellungen leidet. Die Atmosphäre verdichtet sich, die Dramatik nimmt zu, und die Handlung steuert auf einen tragischen Showdown hin, der die Geschichte eindrucksvoll schließt.

Die Sprecher sind fast perfekt für die Rollen, allen voran die beiden Kinderdarsteller Charlotte und Lucas Mertens, auch im wirklichen Leben Geschwister. Da sie auch in dem Geisterfilm "The Others" als deutsche Sprecher der kindlichen Hauptdarsteller fungierten, sind ihre Rollen in diesem Hörspiel sehr passend. Mrs. Grose wird sehr ausdrucksstark von der einprägsamen Regina Lemnitz gesprochen, die regelmäßig Kathy Bates, Whoopie Goldberg und Diane Keaton synchronisiert. Hier spricht sie ein bisschen weniger volltönend und schnoddrig als in den typischen Goldberg-Rollen, denn die Haushälterin Mrs. Grose ist zwar durchaus energisch, öfter aber auch etwas überfordert und verwirrt.

David Nathan, sonst bekannt als Sprecher von Christian Bale, Leonardo di Caprio und Johnny Depp, spricht sehr überzeugend den finsteren und diabolischen Peter Quint. Nicht ganz optimal besetzt ist allein Rita Engelmann als Gouvernante - nicht, dass sie nicht gut sprechen würde, aber ihre Stimme wirkt einfach schon bisschen zu reif für die dargestellte junge Frau, immerhin war Rita Engelmann schon Ende fünfzig bei der Produktion, und so wirkt die Gouvernante auch deutlich älter, als es in ihrer Rolle eigentlich angelegt ist. Ein kleiner Nachteil für manche Hörer ist die wie auch in der Vorlage nicht eindeutig geklärte Frage, ob die Geschehnisse sich alle wirklich ereignen oder der Einbildung der Gouvernante entspringen - der Hörer wird da ein bisschen sich selbst überlassen. Das Ende schließt sehr abrupt und ist damit zwar besonders nachdrücklich, aber es wäre doch interessant gewesen, was aus den einzelnen Figuren später noch wird, deren Schicksal und auch ihre Reaktionen auf die letzten Ereignisse bleiben sehr offen.

Fazit:

Ein atmosphärisches und spannendes Hörspiel, das die Erzählvorlage werkgetreu umsetzt. Die Sprecher sind grundsätzlich sehr überzeugend, nur die Protagonistin ist stimmlich vielleicht nicht optimal besetzt, und das Ende kommt sehr plötzlich. Zwar nicht das beste Hörspiel der Reihe, aber sehr empfehlenswert.

Sprechernamen:

Miles: Lucas Mertens
Flora: Charlotte Mertens
Gouvernante: Rita Engelmann
Mrs. Grose: Regina Lemnitz
Violet Jessel: Arianne Borbach
Peter Quint: David Nathan
Vormund von Miles und Flora: Patrick Winczewski

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