7. Juni 2012

Das Rolandslied - Pfaffe Konrad

Produktinfos:

Auflage: 1993
Verlag: Reclam
Seiten: 821
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Der Autor:

Wie bei mittelalterlichen Autoren üblich, ist über den Autor fast nichts bekannt. Im Epilog nennt sich der "Pfaffe Konrad" als Übertrager des Rolandsliedes von der französischen in die deutsche Version. Aufgrund diverser Texthinweise verortet man ihn in den Raum Regensburg, doch seine Identität ist nicht zu klären. Fest steht nur, dass es sich um einen gelehrten Kleriker gehandelt hat, dessen Werk eine Auftragsdichtung des Herzogs Heinrich des Löwen ist.

Die vorliegende Übersetzung ins Neuhochdeutsche wurde von Dieter Kartschoke vorgenommen, Professor an der Freien Universität Berlin a.d. Er studierte Germanistik, Anglistik und Altphilologie, sein Schwerpunkt liegt u. a. im Bereich der mittelalterlichen Versepik. Neben seiner Edition des deutschen Rolandsliedes veröffentlichte er zu diesem Werk auch zahlreiche Aufsätze und Monografien.

Inhalt:

Karl der Große führt seit sieben Jahren einen erfolgreichen Kreuzzug in Spanien, um die Heiden zu bekehren. Nur die Stadt Saragossa, unter dem Heidenkönig Marsilie, ist noch nicht erobert. Marsilie weiß jedoch, dass er dem Heer des Kaisers unterlegen ist. Einer seiner Berater schlägt eine List vor: König Marsilie soll Boten zu Karl aussenden, die ihm ein fingiertes Unterwerfungsangebot senden. Sie sollen ausrichten, dass Marsilie sich taufen lassen will und Karl mit dem Großteil seiner Mannen und im Besitz von übergebenen Geiseln die Rückreise nach Aachen antreten kann. Anschließend plant der König, Karls Nachhut zu überfallen und seinerseits Geiseln zu nehmen, mit denen er die seinigen auslösen will.

Nach der Überbringung der Botschaft hält Kaiser Karl eine Beratung ab, wie man mit dem Angebot von Marsilie verfahren soll. Während sein Neffe Roland und dessen bester Freund Olivier dafür plädieren, den Kampf fortzuführen, rät Rolands Stiefvater Genelun dazu, das Friedensangebot anzunehmen und den Krieg zu beenden. Ein Bote soll zu Marsilie geschickt werden, um die Lage zu überprüfen. Roland will diesen Auftrag übernehmen, wird jedoch von Karl als zu ungestüm abgelehnt. Im Gegenzug schlägt Roland nun Genelun als Boten vor, der den Auftrag mit Todesangst übernimmt, denn er ahnt, dass er dabei sein Leben riskiert. Genelun verbündet sich mit den Heiden, um sich an Roland zu rächen: Er will dafür sorgen, dass Karl seine Truppen zurückzieht und nach Aachen heimkehrt. Roland soll bei der Nachhut bleiben, die dann König Marsilie mit seinem Heer vernichten wird.

Es kommt wie geplant, Karl zieht ab und Roland bleibt mit Olivier und einigen anderen Männern zurück. Marsilie nutzt die Gelegenheit zum Überfall. Olivier fordert Roland auf, in sein Signalhorn zu blasen, um Karl zu Hilfe zu rufen. Roland verweigert jedoch, stattdessen vertraut er auf Gottes Hilfe. Die Christen kämpfen tapfer gegen die Heiden, sind der Übermacht jedoch unterlegen. Viel zu spät entschließt sich Roland, das Horn doch noch zu blasen. Kaiser Karl eilt sofort zu Hilfe, aber Roland, Olivier und die anderen tapferen Männer sind gefallen. Karl und sein Heer liefern sich eine Schlacht gegen den König aller Heiden, Palligan, den sie am Ende besiegen. Der Verräter Genelun wird in Aachen vor Gericht gestellt. Ein Gottesurteil entscheidet darüber, dass er schuldig sei, und er wird hingerichtet.

Bewertung:

Das Rolandslied des Pfaffen Konrad ist in der deutschen Literatur bei Weitem nicht so verbreitet wie andere mittelalterliche Stoffe, man denke beispielsweise an das "Nibelungenlied". Trotzdem sind die aktuellen Bezüge zum Thema Glaubenskriege nicht zu übersehen, spielen sie doch auch in der heutigen Politik eine traurige Rolle. Das Rolandslied ist ein stark religiös motiviertes Epos über tapfere Kreuzritter, die Heidenbekämpfung wird glorifiziert und Karl der Große gelobpreist. Es ist ein sperriges Werk, das einige Konzentration erfordert - doch es lohnt sich, gelesen zu werden.

Vorläufer aus Frankreich

Beim deutschen Rolandslied handelt es sich um eine Adaption aus dem Französischen. Der Vorläufer ist die "Chanson de Roland", ein Nationalepos mit der gleichen Grundhandlung, das zu der Gattung der "Chanson de geste" gehört, zu den Helden- und Tatenliedern. Der Ursprung dieser "Chanson de Roland" ist umstritten. Es existiert sowohl die Theorie der mündlichen Überlieferung durch die fahrenden Spielleute, sogenannte "Jongleurs", als auch die Möglichkeit, dass die Lieder in den Klostern entlang der Pilgerstraßen verschriftlicht wurden. Fest steht, dass hier zumindest ein mündlicher Erzählgestus verwendet wird. Die Handlung ist straff gespannt, und die entscheidenden Entwicklungen werden dem Rezipienten vorzeitig verraten, beispielsweise erfährt man sehr früh, dass Genelun später hingerichtet wird. Der Laissenstil der französischen Vorlage kennzeichnet sich außerdem durch den häufigen Gebrauch von Kollektivreden (die die Ansichten mehrerer Figuren komprimieren) und durch Wiederholungssequenzen, in denen bestimmte Aussagen wenige Sätze später mit fast dem gleichen Wortlaut wiederholt werden, um sich beim Zuhörer besser einzuprägen.

Auch wenn die inhaltliche Substanz identisch ist, so steht der religiöse Gehalt hier nicht so sehr im Vordergrund. Stattdessen dominieren hier, angepasst an das Publikum, nationale Interessen. Es geht vor allem um das Thema der Vasallität, um das Problem der Lehnstreue unter Adligen. Im Epilog des Rolandsliedes erfährt man, dass die Frau von Heinrich dem Löwen, Mathilde, die wiederum eine Tochter Eleonores von Aquitanien war, offenbar dazu anregte, die französische Chanson ins Deutsche übersetzen zu lassen. Damit steht das Rolandslied ganz in der Tradition der "Adaption courtois", als es im Mittelalter üblich war, sich auf französische Stoffe zu beziehen und diese zu übertragen. Darin waren, wie auch hier, kleine Änderungen stets inbegriffen, die sich aus dem Transfer in eine andere Kultur ergaben.

Historischer Hintergrund und Überlieferung

Trotz aller künstlerischer Freiheit ist ein wahrer Kern im Stoff vorhanden. Die Folie für die Handlung bietet der Kriegszug Karls des Großen im Jahr 778 in Spanien, der zu einem Misserfolg wurde. Die fränkische Nachhut geriet bei Roncevall - auch im "Rolandslied" der Austragungsort der entscheidenden Schlacht - in einen Hinterhalt durch die Basken. Dabei kam der Markgraf Hruotland, der wohl für "Roland" Pate gestanden hat, ums Leben. Diese historische Niederlage wird im Epos zu einem schlussendlichen Sieg durch Karl den Großen uminterpretiert. Eine aktuelle Rolle bei der Übertragung ins Deutsche spielte vermutlich auch die zeitnahe Heiligsprechung Karls des Großen im Jahr 1165 durch Friedrich Barbarossa. Das deutsche Rolandslied ist vollständig in der bebilderten Heidelberger Handschrift und fragmentarisch in sechs weiteren überliefert worden.

Vergeistlichung auf allen Ebenen

Man merkt der Übertragung deutlich an, dass hier ein Kleriker am Werk gewesen ist. Aber nicht nur wegen seiner eigenen Herkunft, sondern vor allem im Interesse seines zeitgenössischen Publikums wird das französische Nationalepos auf eine Vergeistlichung des Inhaltes und der Aussage zugeschnitten. Der deutsche Text ist durchsetzt mit allerlei Bibelzitaten und religiösen Motiven. Der Verräter Genelun wird mehrmals mit Judas, dem Erzverräter der Christenheit, verglichen. Kaiser Karl und seine treuen Vasallen dagegen stehen ganz im Zeichen der Christusnachfolge. Der Pfaffe Konrad kreiert den Idealtypus des "miles christi", des Soldat Christi, der alles zurücklässt, um seiner Mission zu folgen. Genelun dagegen möchte den Krieg lieber vorzeitig beenden, um zu seiner Familie heimzukehren - mit dieser Einstellung, die die Familienbande höher als die göttliche Aufgabe stellt, disqualifiziert er sich. Der deutsche Stoff ist stark auf Roland zugeschnitten, der in der Vorlage unbesonnener und fehlerhafter gezeichnet ist. Ganz signifikant dafür ist die Szene, in der Roland sich weigert, den Olifant zu blasen, um Karl zu Hilfe zu rufen. In der französischen Chanson liegt der Grund in seiner Überheblichkeit, also in einem Charakterfehler, der anschließend bestraft wird. Im deutschen Text dagegen lehnt Roland das Signal ab, weil er auf Gottes Hilfe vertraut - der Fehler des Hochmuts wird hier ins Positive verkehrt, denn ein typischer "miles christi" sieht den Tod für Gott ohnehin als höchstes Lebensziel an. Immer wieder kommentiert der Erzähler diese Tugenden, indem er sein Publikum daran erinnert, dass Roland und seine Mitstreiter hier ein bewundernswertes Verhalten an den Tag legen.

Für den heutigen Leser mag diese Überzeichnung befremdlich und sogar abschreckend wirken. Tatsächlich ist dieses Streben nach Martyrium, das Zurücklassen aller irdischen Freuden, die Herabstufung von familiären Bindungen aus heutiger Sicht nicht nachahmenswert, sondern eher verblendet. Die Vorlage wird auf ihre religiöse Bedeutung reduziert, die Charaktere dementsprechend verarmt, und die Aussage ergeht sich in missionarischem Eifer. Kennzeichnend ist auch die starke Schwarz-Weiß-Malerei. Die Christen sind makellose Helden, die Heiden dagegen finstere und hässliche Gesellen. Während der oberste Heidenkönig Palligan in der Chanson, abgesehen von seinem Glauben, Kaiser Karl als ebenbürtig erscheint, ist er im Rolandslied weit weniger glanzvoll dargestellt. Immer wieder dominieren dualistische Bezüge. Den Christen scheint das helle Licht, die Heiden leben in Dunkelheit.

Für unfreiwillige Komik sorgt gar die Religion der Heiden, die, um sie so verwerflich wie möglich darzustellen, ein kruder Mix aus verschiedensten Richtungen ist. Die Heiden verehren sowohl Mahomet als auch Apollo, um auf den Leser denkbar unseriös zu wirken. Gnadenlose Übertreibung herrscht in Konrads Beschreibungen vor. Sei es, dass Kaiser Karl bereits stattliche 200 Jahre zählt und immer noch ein unermüdlicher Krieger ist oder dass die Christen selbst in gravierender Unterzahl sich gegen die heidnischen Heere lange Zeit noch erfolgreich wehren können. Selbst auf dem Schlachtfeld bekreuzigen sich die Kämpfer immer wieder oder sprechen, in Erinnerung an liturgische Rituale, ein gleichzeitiges "Amen". Die Kombination aus festem Glauben und Gottes Beistand sorgt dafür, dass ihnen die unmöglichsten Dinge gelingen, und wenn sie am Ende doch sterben, ist dies nicht als Scheitern zu verstehen, sondern als Erfüllung ihrer Mission.

Geschickte Konstruktion

Trotz der Schwarz-Weiß-Malerei ist die Gestaltung des Rolandsliedes keineswegs banal. Im Gegensatz zur französischen Vorlage sind die Vorausdeutungen bei Konrad subtiler integriert, sein Erzählerwissen geht oft nicht oder kaum über den Standpunkt der jeweiligen Figur hinaus, es wird eine behutsamere Spannung aufgebaut. Die Handlungsstruktur wird durch viele Parallelismen bestimmt. So gleichen sich die Beratungsszenen bei Kaiser Karl als auch bei seinem Widersacher König Marsilie; auch der Kampf gegen König Palligant/Balligant ist eine Wiederholung im großen Rahmen, was sich bereits zuvor zwischen Marsilie und Karl im kleineren Rahmen abspielte. Manche Hinweise sind so versteckt, dass man sie ohne detaillierte Kenntnisse gar nicht als solche wahrnimmt, beispielsweise die Erwähnung, dass Saragossa auf einem Berg gelegen sei - was in der Realität gar nicht zutrifft und höchstwahrscheinlich eine weitere Verstärkung des Hochmuts der Heiden bewirken soll.

Viele der biblischen Anspielungen sind dezent gehalten, nicht auf den ersten Blick als solche zu erkennen. Es ist erstaunlich, was für eine Fülle von Bibelstellen als Referenzen im Kommentar angegeben werden, sowohl aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament. Dabei ist es nicht schlimm für das Verständnis, wenn man die meisten gar nicht bemerkt, sondern sie bieten lediglich eine zweite Ebene, in die man eintauchen kann, aber nicht muss. Das gilt auch für die Anspielungen auf den Auftraggeber, den man heute zweifelsfrei als Herzog Heinrich den Löwen identifiziert. Sogar für eine humorvolle Szene ist gesorgt, als ein Heide die liturgischen Rituale der Christen, wie das Niederknien und Auf-den-Boden-Sinken, als angsterfüllte Reaktionen deutet und seinem König aufgeregt davon berichtet.

Fazit:

Den Leser erwartet ein interessantes Werk, das sehr intensiv die Kreuzzugpropaganda des Mittelalters widerspiegelt. Der stark dominierende religiöse Gehalt mag auf den heutigen Leser abschreckend wirken, zudem liest sich das Werk nicht sehr einfach. Wer sich für das Mittelalter und die Anfänge der Literatur jedoch begeistern kann, der sollte ruhig den Versuch wagen, sich mit dem Rolandslied und seiner Thematik auseinanderzusetzen.

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